Kapitel 3: Erich Fromms Geschichtsverständnis

a) Das Geschichtskonzept in den Frühschriften Fromms

Der Frommsche Entfremdungsgedanke lässt sich ohne vertiefte Darstellung seiner Geschichtsphilosophie nicht angemessen verstehen. [84]

Dass Fromm den Menschen als "geschichtliches und Geschichte schaffendes Wesen" (Funk, 1978; 96) versteht, ist dabei von grundsätzlicher Bedeutung.

An der Wende zu den dreissiger Jahren bekennt sich Fromm noch explizit zu einem historischen Materialismus, der "den geschichtlichen Prozess als Prozess der aktiven und passiven Anpassung des Menschen an die ihn umgebenden und natürlıchen Bedingungen" (1932a, GA I: 50) auffasst. Mensch und Natur sind für ihn zwei aufeinander einwırkende und sich wechselseitig verändernde und bedingende Pole, und immer "bleibt der historische Prozess an die Gegebenheiten der natürlichen Bedingungen ausserhalb des Menschen wie seiner eigenen Beschaffenheit gebunden" (ebd.).

Ausgehend von Marx' Verständnis des geschichtlichen Prozesses als Selbstschaffung des Menschen in der Arbeit, grenzt sich Fromm ab gegen idealistische Positionen, die dem menschlichen Willen unbeschränkte Macht zugestehen.

Hingegen hebt Fromm in grundsätzlicher Opposition zum dogmatischen Marxismus die besondere Rolle einer kritischen Psychologie hervor, wie sie Freud mit der Psychoanalyse begründet hat:

"Die Psychoanalyse, die den Menschen als vergesellschafteten, seinen seelischen Apparat als wesentlich durch die Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft entwickelt und bestimmt versteht, muss es als ihre Aufgabe ansehen, sich an der Beantwortung soziologischer Probleme zu beteiligen, soweit der Mensch beziehungsweise seine Psyche überhaupt eine Rolle spielt. Sie darf bei dieser Bemühung die Worte nicht eines Psychologen – sondern eines der genialsten Soziologen zitieren: 'Die Geschichte tut nichts, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut, besitzt und kämpft.'" (1929a, GA I: 5)

Bereits in der frühen Schrift Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, die ich für eine von Fromms bedeutsamsten halte, formuliert der 32-jährige Einsichten, die zu den eigentlichen Grundlagen für sein ganzes späteres Denken werden: Geschichte wird im Nachvollzug der Marxschen Interpretation als das Werden des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit Natur und Mitmenschen verstanden. Aber als psychologische Voraussetzungen für den historischen Materialismus gelten:

" (...) zunächst die, dass es die Menschen sind, die ihre Geschichte machen, weiterhin die, dass es die Bedürfnisse – sind, die das Handeln und Fühlen der Menschen motivieren (Hunger und Liebe), und weiterhin, dass diese Bedürfnisse im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung steigen und dieses Steigen der Bedürfnisse eine Bedingung für die steigende wirtschaftliche Tätigkeit darstellt." (1932a, GA I: 48)

Als entscheidend neues Element bringt Fromm in dieser wohl kreativsten Schaffensperiode die Betonung des "psychischen Faktors" als vermittelndes Glied zwischen "Basis" und "Überbau" in das marxistische Geschichtsverständnis seiner Zeit ein.

"Es geschieht nicht selten, dass die Veränderung bestimmter Einrichtungen nicht deshalb unterlassen wird, weil die realen Verhältnisse es nicht gestatten, sondern weil bestimmte Illusionen die Menschen auch dann noch daran hindern, das für sie Zweckmässige zu tun, wenn die realen Bedingungen; die diese Illusionen entstehen liessen; schon längst verschwunden sind. Der ideologische Überbau bleibt oft länger bestehen, als es der ökonomisch-soziale Unterbau notwendig machte." (1931b, GA I: 36)

Der Psychoanalyse erwächst daraus die Aufgabe, "gewisse gesellschaftlich relevante Illusionen genetisch zu erklären und zu zerstören" (ebd.) [85]. Der Kampf gegen das von Marx analysierte "falsche Bewusstsein" wird so auf den innerpsychischen Bereich übertragen. Die psychoanalytische Sichtweise lasst eine Reihe politischer Erscheinungen besser verstehen, ohne allerdings politische Praxis ersetzen zu können.

Während Marx und Engels noch nicht über eine wissenschaftliche Psychologie verfügten – "sie waren (...) keine Psychologen und wollten auch keine sein" (1932a, GA I: 48) – enthält die klassische Freudsche Psychoanalyse einen Ansatz, der zeigen kann, "dass der 'Erwerbstrieb' zwar eine wichtige, aber neben anderen (genitalen, sadistischen, narzisstischen und anderen mehr) Bedürfnissen keineswegs eine überragende Rolle im Seelenhaushalt des Menschen spielt" (ebd.).

Fromms Versuch, die beiden revolutionärsten Ansätze neuzeitlicher Weltdeutung – historischen Materialismus und Psychoanalyse und damit Marx und Freud – zu einer neuen Synthese zu verschmelzen, konzentriert sich auf den zentralen Punkt, der in der klassisch gewordenen Diskussion als "Natur" oder "Wesen des Menschen" bezeichnet wird. [86]

"Die Psychoanalyse kann die Gesamtauffassung des historischen Materialismus an einer ganz bestimmten Stelle bereichern, nämlich in der umfassenderen Kenntnis eines der im gesellschaftlichen Prozess wirksamen Faktoren, der Beschaffenheit des Menschen selbst, seiner 'Natur'. Sie reiht den Triebapparat des Menschen in die Reihe der natürlichen Bedingungen ein, die selber modifizieren, aber in deren Natur auch die Grenzen der Modifizierbarkeit liegen. Der Triebapparat ist eine der 'natürlichen' Bedingungen, die zum Unterbau des gesellschaftlichen Prozesses gehören." (ebd.: 50f.)

Den marxistischen Theoretikern, die Psychologie und Ethik als unvereinbar mit Marx' Grundanliegen einer fundamentalen und revolutionären Umgestaltung in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft ansehen, wirft Fromm vor, die inneren Voraussetzungen des Menschen nicht in Rechnung zu stellen. Er gesteht zwar zu, dass der gesellschaftliche Prozess auch ohne psychologische Einsichten verstanden werden könne, betont aber wiederholt die Bedeutung des einzelnen Menschen als Subjekt des historischen Prozesses. Die lebendigen Menschen sind es (nach dem Diktum von Marx), die handeln, und nicht die gesellschaftlichen Gesetze. Zudem setzen sich die ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten nicht einfach über das Medium des rationalen Denkens durch, sondern vorwiegend über die libidinösen Kräfte, den Triebapparat des Menschen, was wichtige Konsequenzen hat:

" (...) einmal ist die menschliche Triebwelt eine Naturkraft, die gleich anderen (also etwa Bodenfruchtbarkeit, Bewässerung usw.) unmittelbar zum Unterbau des gesellschaftlichen Prozesses gehört und einen wichtigen naturalen, sich unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Prozesses verändernden Faktor darstellt, dessen Kenntnis also zum vollständigen Verständnis des gesellschaftlichen Prozesses notwendig ist; weiterhin, dass die Produktion und Wirkungsweise der Ideologien nur aus der Kenntnis des Funktionierens des Triebapparates richtig verstanden werden kann; endlich, dass beim Auftreffen der ökonomisch bedingenden Faktoren auf dieses Medium, die Triebwelt, gleichsam gewisse Brechungen entstehen, das heisst, dass durch die Eigenart der Triebstruktur sich faktisch der soziale Prozess, vor allem im Tempo, anders – rascher oder langsamer – vollzieht, als dies bei theoretischer Vernachlässigung des psychischen Faktors zu erwarten ist " (1932a, GA I: 53f.)

Die Berücksichtigung psychoanalytischer Ergebnisse ergibt nach Fromms Einschätzung bei verfeinerter Methodik eine stark erweiterte Einsicht in die im gesellschaftlichen Prozess wirkenden Kräfte, eine grössere Sicherheit im Verständnis historischer Abläufe und der Prognose künftiger gesellschaftlicher Entwicklungen "und speziell das vollkommene Verständnis der Produktion der Ideologien" (ebd.: 54). [87]

Der äussere Machtapparat und die rationalen Interessen allein können, wie Fromm ausführt, das Funktionieren einer Gesellschaft nicht garantieren.

"Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der grossen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen." (ebd.)

ln der geschichtlichen Entwicklung sieht Fromm wie Marx die bisher ungebrochene Abfolge der Herrschaft von Minoritäten über die Majorität in ihrer Sozietät, notwendig bedingt durch die ökonomısche "Gesamtsituation der Gesellschaft vom Stand der Produktivkräfte" (ebd.).

Aber so wie jede Gesellschaft eine bestimmte wirtschaftliche, soziale, politısche und geistige Struktur hat, ist ihr nach Fromm auch eine ganz spezifische libidinöse Struktur eigen. Die aus dem lndividualbereich gewonnenen Erkenntnisse Freuds werden, wie wir sehen, von Fromm konsequent auf gesellschaftliche Phänomene angewandt, wodurch die lndividualpsychologie sich zur Sozialpsychologie auf psychoanalytischer Grundlage entfaltet. [88]

Die libidinöse Struktur einer Gesellschaft bildet für Fromm "das Medium, in dem sich die Einwirkung der Ökonomie auf die eigentlich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht" (ebd.: 56). Sie ist natürlich nicht einfach eine Konstante; doch eignet ihr eine gewisse Stabilität, solange die gesellschaftliche Struktur sich in einem relativen Gleichgewicht befindet, "das heisst also in den relativ konsolidierten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung" (ebd.).

"Mit dem Wachsen der objektiven Widersprüche innerhalb der Gesellschaft, mit der beginnenden stärkeren Zersetzung einer bestimmten Gesellschaftsform, treten auch gewisse Veränderungen in der libidinösen Struktur der Gesellschaft ein; traditionelle, die Stabilität der Gesellschaft erhaltende Bindungen verschwinden, traditionelle Gefühlshaltungen ändern sich. Libidinöse Kräfte werden zu neuen Verwendungen frei und verändern damit ihre soziale Funktion. Sie tragen nun nicht mehr dazu bei, die Gesellschaft zu erhalten, sondern sie führen zum Aufbau neuer Gesellschaftsformationen, sie hören gleichsam auf, Kitt zu sein und werden Sprengstoff." (ebd.: 56f.) [89]

So wie die Triebentwicklung als Produkt der aktiven und passiven Anpassung der Triebstruktur an die Lebensbedingungen zu betrachten ist, muss das Verhältnis zwischen der libidinösen Struktur der Gesellschaft und ihren ökonomischen Bedingungen als dialektischer Prozess der aktiven und passiven Anpassung der libidinösen Gesellschaftsstruktur an die ökonomischen Bedingungen verstanden werden. [90]

"Die Menschen, eben getrieben von ihren libidinösen Impulsen, verändern ihrerseits die ökonomischen Bedingungen, die veränderten ökonomischen Bedingungen bewirken, dass neue libidinöse Strebungen und Befriedigungen entstehen und so fort. Entscheidend ist, dass alle diese Veränderungen in letzter Instanz auf die ökonomischen Bedingungen zurückgehen, dass sich die Triebregungen und Bedürfnisse im Sinne der ökonomischen Bedingungen. Das heisst des jeweiligen Möglichen beziehungsweise Notwendigen verändern und anpassen." (ebd.: 57)

Auch wenn der libidinösen Struktur als der vermittelnden lnstanz eine gewisse Plastizität und begrenzte Eigendynamik zugestanden wird, ja gar als entscheidender Faktor im Wirkungsfeld zwischen ökonomischer Grundlage und ideologienbildendem Bewusstsein Anerkennung findet. teilt Fromm die Marxsche Auffassung, dass in letzter Instanz der wirtschaftliche Faktor für die gesellschaftliche Entwicklung ausschlaggebend ist.

Die den Mitgliedern einer gesellschaftlichen Gruppe gemeinsame psychische Struktur, deren Nährboden die Familie als "psychologische Agentur der Gesellschaft" (ebd.: 42) ist, wirkt als unentbehrliche Stütze bei der Erhaltung der gesellschaftlichen Stabilität, allerdings nur solange, wie die Widersprüche zwischen ihr und den allgemeinen ökonomischen Bedingungen ein gewisses Mass nicht überschreiten, wobei "sich die psychischen Strukturen verschiedener Klassen in dieser Hinsicht je nach ihrer Rolle im gesellschaftlichen Prozess völlig verschieden verhalten" (1934a, GA 1: 101). [91]

Dass die libidinösen Strukturen der Gesellschaft bisher nicht erkannt worden sind, schreibt Fromm der Tatsache der Befangenheit des Sozialwissenschaftlers bei der Erkundung der eigenen sozialen Voraussetzungen zu, was dazu führe, dass allzu leicht die eigenen Bedingtheiten für "natürlich" und "allgemein menschlich" gehalten werden und übersehen wird, dass unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen ganz andere Triebstrukturen als Produktivkraft gewirkt hätten oder noch wirken könnten. Gerade die Forschungsergebnisse der Anthropologen (und dabei denkt Fromm offensichtlich an Bachofen und Morgan) sind für eine analytische Sozialpsychologie sehr gewinnbringend.

"Die Bedeutung des Studiums matrizentrischer Kulturen für die Sozialforschung liegt darin, dass in ihnen ganz andere psychische Strukturen sichtbar werden, als die dem Beobachter unserer Gesellschaft geläufig sind, und dass die Einsicht in solche anderen Möglichkeiten eine wichtige Bereicherung der Forschung darstellt." (ebd.: 102)

Anzufügen ist, dass Fromm im Zuge der Freud-Revision (zweite Hälfte der dreissiger Jahre) den Begriff "libidinöse Gesellschaftsstruktur" aufgibt und durch jenen des "Sozialcharakters" ersetzt. Dies ist der eigentliche Wendepunkt in der geistigen Entwicklung Fromms. Unter "Wende" meine ich aber nicht eine abrupte Richtungsänderung, sondern die zunehmende Verstärkung einer doch schon in seiner Dissertation (Das jüdische Gesetz) keimhaft angelegten Tendenz zu einer geschichtsidealistischen Sicht. [92]

 

b) Das Geschichtsbild des "reifen" Fromm

Von Entfremdung ist, wie schon erwähnt, in Fromme Werken der dreissiger Jahren nicht in erwähnenswertem Sinn die Rede, im Übrigen auch nicht von den alten Propheten, vom biblischen Schöpfungsmythos oder der Vorstellung eines messianischen Zeitalters in der späteren, zentralen Bedeutung.

Wie aufzuzeigen ist, wendet sich Fromm nun völlig vom "bürgerlichen Materialismus" Freuds mit seiner Triebphysiologie und seinem Zivilisationspessımismus ab und einem am "wahren Wesen des Menschen" orientierten, optimistischen und auf die regenerativen Kräfte der Menschheit vertrauenden Geschichtsverständnis zu – im ungebrochenen Selbstverständnis, getreulich auf Marx' Pfaden zu wandeln, zumindest dessen "eigentliche" Anliegen zu vertreten. [93]

Um Fromms "Wende" zu verstehen, muss der Einfluss, den die Lektüre von Bachofens Hauptwerk Mutterrecht und Urreligion (1851) auf ihn hatte, als sehr hoch veranschlagt werden. [94] Hier entdeckt Fromm die von Bachofen vorgebrachte Hypothese einer matriarchalischen Gesellschaft mit Zügen, "die eine enge Verwandtschaft mit Idealen des Sozialismus haben: Die Sorge für die materielle Wohlfahrt wird als einer der zentralen Gedanken der mutterrechtlichen Gesellschaft hingestellt" (1934a, GA I: 92). In der matriarchalischen Sozietät leben die Menschen unter Verhältnissen.

” (...) in der die Sexualität frei war von der christlichen Entwertung, als eine Gesellschaft urwüchsiger Demokratie, in der mütterliche Liebe und Mitleid die tragenden moralischen Prinzipien waren und die Verletzung des Mitmenschen die schwerste Sünde, eine Gesellschaft, in der noch kein Privateigentum existierte." (ebd.)

Fromm folgt nun Bachofen in der damals wie auch heute sehr umstrittenen, ja durch Wesel (1980) wohl gänzlich widerlegten Ansicht, dass dem Patriarchat als historisch späterer, mit Besitz und Eigentum verbundener Formation ein Zeitalter des Mutterrechts voranging mit einem Sozialcharakter, der sich durch Brüderlichkeit und Solidarität auszeichnet, eine Gesellschaftsform ohne positives Recht, aber auch mit sehr schwacher wirtschaftlicher Effizienz. Als spezifisches Charakteristikum der matriarchalischen Gesellschaft gilt dabei die intensive Bindung an Natur, Blut und Boden.

In den folgenden Jahren entwickelt Fromm – unter den Lebensverhältnissen der amerikanischen Gesellschaft der späten dreissiger Jahre und einer zunehmenden Spannung zu Horkheimers ebenfalls exiliertem Institut für Sozialforschung in New York eine grossangelegte Geschichtsbetrachtung: Die Furcht vor der Freiheit (1941a).

Das Buch beschreibt die Menschheitsgeschichte als Geschichte der Freiheit, nicht so sehr der ökonomischen wie bei Marx, sondern der ethischen und sozialpsychologischen, allerdings vor dem Hintergrund der materiellen, durch die Gesellschaft organisierten Lebensverhältnisse des "Menschen", den Fromm nun zunehmend von seinen klassenbedingten Verhältnissen zu abstrahieren und damit in der Tendenz zu idealisieren und zu universalieren beginnt. Dies zeigt sich schon in der folgenden Passage, die aus dem Vorwort des genannten Werkes stammt:

"Die reale Grundlage des gesellschaftlichen Prozesses ist das Individuum, seine Wünsche und Ängste, seine Leidenschaften und seine Vernunft, seine Neigung zum Guten und zum Bösen. Um die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses zu verstehen, müssen wir die Dynamik der psychologischen Prozesse begreifen, die sich im Individuum abspielen, genauso wie wir den Einzelnen im Kontext der ihn formenden Kultur sehen müssen, wenn wir ihn verstehen wollen." (1941a, GA I: 217) [95]

lm Folgenden will ich versuchen, Fromms revidierte Geschichtsauffassung in ihrer verdeckten Struktur darzustellen, wobei ich natürlich auch die späteren Werke Fromms in meine Betrachtung miteinbeziehe, denn nur in mosaikartiger Form lässt sich ein Gesamtbild von Fromms Geschichtsphilosophie zusammenfügen.


1) Das "Auftauchen" des Menschen aus der Natur

 Fromms Ausgangspunkt ist die Evolutionsgeschichte, wie sie die moderne Biologie seit Darwin vertritt. Der Mensch bildet darin das bisherige Schlussglied einer langen Reihe tierischer Vorfahren. Das qualitativ Neue des Menschen sieht Fromm in dessen mangelnder instinktiver Steuerung, deren Funktionen von den sich ausbildenden Verstandeskräften so gut wie möglich übernommen werden. [96] Mangelnde biologische Determinıertheit ist als Kehrseite der menschlichen Freiheit zu verstehen:

"Die biologische Schwäche des Menschen ist die Voraussetzung der menschlichen Kultur.

    Vom Anfang seiner Existenz an ist der Mensch vor die Wahl gestellt zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten. Beim Tier finden wir eine ununterbrochene Kette von Reaktionen, die von einem genau bestimmten Reiz – etwa dem Hunger – ausgeht und zu einem mehr oder weniger genau festgelegten Handlungsablauf führt, der die durch den Reiz hervorgerufene Spannung abbaut. Beim Menschen wird diese Kette unterbrochen. Der Reiz ist vorhanden, aber die Art seiner Befriedigung bleibt offen', das heisst er muss zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens seine Wahl treffen. An Stelle eines im Voraus determinierten instinkthaften Verhaltens muss der Mensch im Geist die verschiedenen Verhaltensweisen gegeneinander abwägen" (1941a, GA I: 236) [97]

Als physiologisches Substrat für dieses "Herausfallen" aus der Natur betrachtet Fromm das Wachstum des Gehirns, vor allem des Neocortex.

Der Mensch nimmt der Natur gegenüber nun eine ganz andere Stellung ein, indem er seine passive Anpassung an sie zugunsten einer aktiven aufgibt.

"Er erfindet Werkzeuge, und indem er so die Natur meistert, sondert er sich immer mehr von ihr ab. Er wird sich vage seiner selbst – oder besser gesagt, seiner Gruppe – bewusst, als Grösse, die nicht mit der Natur identisch ist. Es dämmert ihm, dass er das tragische Schicksal hat, ein Teil der Natur zu sein und sie trotzdem zu transzendieren." (ebd.)

Zur Veranschaulichung dieser Grundgedanken › greift Fromm auf den biblischen Mythos vom Paradies und vom mythologischen Menschenelternpaar Adam und Eva zurück und stellt fest:

"ln ein einmal verlassenes Paradies kann der Mensch nicht mehr zurückkehren" (ebd.: 238).

Das Erscheinen des Menschen in der Naturgeschichte, im negativen Sinne verstanden als ein "Herausfallen" aus der Geborgenheit der animalischen Trieb- und Instinkthaftigkeit, ist die eigentliche Grundfigur der Entfremdung, auch wenn Fromm sein Konzept erst viel später auf diesen Ausgangspunkt zurückbezieht, insbesondere in seinem religionsphilosophischen Werk Ihr werdet sein wie Gott (1966):

"Adam und Eva sind zu Beginn ihrer Entwicklung an Blut und Boden gebunden; sie sind noch 'blind'. Aber nachdem sie zur Erkenntnis des Guten und Bösen gelangt sind, 'da gingen beiden die Augen auf". Mit dieser Erkenntnis ist die ursprüngliche Harmonie mit der Natur zerstört. Der Mensch beginnt den Individuationsprozess und zerschneidet seine Bindungen an die Natur. Tatsächlich werden er und die Natur zu Feinden, die erst dann wieder versöhnt werden können, wenn der Mensch zu seinem vollen Menschsein gelangt ist. Mit diesem ersten Schritt der Zerschneidung des Bandes zwischen Mensch und Natur beginnt die Geschichte – und die Entfremdung. Wie wir gesehen haben, handelt es sich dabei nicht um den 'Sündenfall' des Menschen, sondern um sein Erwachen und so um den Anfang seines Aufstiegs." (1966a, GA VI: 126: meine Hervorh.)

Weil die Entwicklung der Menschheit nicht nach einem festgelegten Plan verläuft, sind die beiden Momente ihres Fortschreitens – "die wachsende Stärke und die wachsende Individuation" (1941a, GA I: 238) nicht aufeinander abgestimmt.

"So aber ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Konflikte und Kämpfe. Jeder Schritt in diese Richtung einer wachsenden lndividuation hat die Menschheit mit neuen Unsicherheiten bedroht. Einmal gelöste primäre Bindungen können nicht mehr geflickt werden: (...)" (ebd.) [98]

Unter wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die für die lndividuation, den Prozess der Entfaltung der Individualität, keine günstige Grundlage bieten, wird der durch den Verlust der primären Bindungen entstandene Leerraum der Freiheit zu einer unerträglichen Last, "gleichbedeutend mit Zweifel, mit einem Leben ohne Sinn und Richtung" (ebd).

"Es entstehen dann machtvolle Tendenzen, vor dieser Art von Freiheit in die Unterwerfung oder in irgendeine Beziehung zu anderen Menschen und der Welt zu fliehen, die eine Milderung der Unsicherheit verspricht, selbst wenn sie den Menschen beraubt." (ebd.)

Die Identität, die der Mensch mit der Natur, mit der Sippe oder in der Naturreligion erlebt, gibt dem Einzelnen Sicherheit, indem er sich als Teil eines strukturierten Ganzen und in sozialer Zugehörigkeit erlebt und so verwurzelt fühlt.

"Er kann durch Hunger oder Unterdrückung leiden, aber er leidet nicht an dem Allerschmerzlichsten – an völliger Einsamkeit und Zweifel." (ebd.)

Fromm sieht die Geschichte der Menschen in einem sich lange hinziehenden Prozess als die Geschichte der menschlichen Freiheit, deren Charakter sich prinzipiell ändert von einer negativen "Freiheit von" zu einer positiven "Freiheit zu", was voraussetzt, dass er sich seiner Möglichkeiten bewusst wird und sich von dem löst, was seine Anlagen an der Entfaltung hindert. [99]

"Der Mensch bleibt grossenteils an jene Welt gebunden, aus der er auftauchte: er bleibt ein Teil der Natur: von der Erde, auf der er lebt, von Sonne, Mond und Sternen, von Bäumen, Blumen und Tieren und von der Gruppe von Menschen, mit der er durch die Blutsbande verbunden ist. Die primitiven Religionen bezeugen dieses menschliche Gefühl des Einsseins mit der Natur. Die primären Bindungen des Menschen blockieren seine volle Entfaltung. Sie stehen der Entwicklung seiner Vernunft und seiner kritischen Fähigkeiten im Wege; sie machen, dass er sich und die anderen nur durch das Medium seiner beziehungsweise ihrer Zugehörigkeit zu einer Sippe, einer sozialen oder religiösen Gemeinschaft, und nicht als menschliches Wesen erlebt; mit anderen Worten: Sie blockieren seine Entwicklung zu einem freien, über sich selbst bestimmenden, produktiven Individuum." (ebd.: 237)

Jeder Schritt in Richtung einer wachsenden Individuation bedroht die Menschen in dieser Epoche mit neuen Unsicherheiten.

"Es gibt nur eine einzige produktive Lösung für die Beziehung des Menschen zur Welt: seine aktive Solidarität mit allen Mitmenschen und sein spontanes Tätigsein, Liebe und Arbeit, die ihn wieder mit der Welt einen, nicht durch primäre Bindungen, sondern als freies, unabhängiges Individuum." (ebd.: 238)

Die Unfähigkeit des Menschen, sein individuelles Selbst zu ertragen, führt in symbiotische Beziehungen mit sadistischen und masochistischen Zügen. Sie fördert die autoritäre Charakterstruktur, eine in der Geschichte stets gegenwärtige Bedrohung in individuellen und sozialen Bezügen. Diese Flucht in eine symbiotische Bindung mag das menschliche Leiden eine Zeitlang mildern, kann es aber nicht aus der Welt schaffen.

"Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und lässt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des lndividuationsprozesses und des Wachstums der Kultur. Die autoritären Systeme können die Grundbedingungen nicht beseitigen, die zum Streben nach Freiheit führen, und sie können auch das Freiheitsverlangen nicht ausrotten, das diesen Bedingungen entspricht." (ebd.: 356)

Für Fromm ist der Prozess der wachsenden Freiheit kein Teufelskreis. Er ist überzeugt, dass der Mensch "frei und trotzdem nicht allein, kritisch und doch nicht voller Zweifel, unabhängig und doch ein integraler Teil der Menschheit" (ebd.: 367) sein kann. Zu dieser positiv verstandenen Freiheit gelangen wir, indem wir unser Selbst verwirklichen, indem wir uns selbst sind.

"Wenn der Mensch durch spontanes Tätigsein sein Selbst verwirklicht und auf diese Weise zur Welt in Beziehung tritt, hört er auf, ein isoliertes Atom zu sein, er und die Welt werden Teil eines strukturierten Ganzen, er hat seinen ihm zukommenden Platz in der Welt, womit auch seine Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Lebens verschwinden. Diese Zweifel entsprangen seiner Absonderung und der Vereitelung seines Lebens. Die Zweifel verschwinden, sobald er es fertigbringt, nicht mehr unter Zwang und automatisch, sondern spontan zu leben. Er erlebt sich dann als tätiges und schöpferisches lndividuum und erkennt, dass das Leben nur den einen Sinn hat: den Vollzug des Lebens selbst." (ebd.: 370)

Aufgabe des "Menschen" ist es, die Gesellschaft "in den Griff" zu bekommen, den Wirtschaftsapparat in den Dienst des menschlichen Glücks zu stellen und jeden Einzelnen aktiv am gesellschaftlichen Prozess zu beteiligen.

 

2) Die menschliche "Natur" als dynamisches Prinzip

Mit der Vorstellung von den im Menschen angelegten Möglichkeiten und Fähigkeiten zum Wachstum, zur Entfaltung der produktiven Kräfte, des Vermögens zu Liebe und Arbeit, sind wir bereits mitten in Fromms Anthropologie. Sein Verständnis der menschlichen Natur ist aufs engste verbunden mit seiner Bedürfnislehre, da er den Menschen wesentlich als ein Mängelwesen betrachtet.

“Es gibt nicht nur bestimmte physiologische Bedürfnisse, die gebieterisch nach Befriedigung verlangen, sondern es gibt auch psychologische Eigenschaften, die dem Menschen mitgegeben sind und befriedigt werden müssen und die, wenn dies nicht geschieht, bestimmte Reaktionen hervorrufen. (...) Die wichtigste scheint mir die Tendenz zu sein zu wachsen, sich zu entwickeln und die Möglichkeiten zu realisieren, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat – wie zum Beispiel die Fähigkeit zum schöpferischen und kritischen Denken und zum Erleben differenzierter emotionaler und sinnlicher Erfahrungen." (1941a, GA I: 385)

Diese menschlichen Möglichkeiten haben eine eigene Dynamik. Fundamental im Evolutionsprozess angelegt, streben sie nach Ausdruck. Ihre Unterdrückung oder Frustration löst neue Reaktionen in Form von destruktiven und symbiotischen Impulsen aus. Das Streben nach Freiheit. Gerechtigkeit und Wahrheit ist dem Menschen bereits in seiner existenziellen Grundsituation mitgegeben: das versucht Fromm in seiner Analyse der Menschheitsgeschichte zu belegen.

Fromm verwahrt sich einerseits gegen jede Form von biologistischer oder metaphysischer Anthropologie, anderseits aber auch gegen einen soziologischen Relativismus, der den Menschen einfach als Marionette sieht, an den Fäden seiner gesellschaftlichen Bestimmungen gelenkt.

"Das unveräusserliche Recht des Menschen auf Freiheit und Glück ist in Eigenschaften begründet, die dem Menschen angeboren sind: in seinem Streben zu leben, sich zu entfalten und die in ihm angelegten Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen, welche sich im Prozess der historischen Evolution in ihm entwickelt haben.

(...) Es handelt sich darum, dass ich die menschliche Natur als im Wesentlichen geschichtlich bedingt ansehe, wenn ich auch die Bedeutung von biologischen Faktoren keineswegs unterschätzen möchte und nicht der Meinung bin, dass die Frage so zu stellen ist, dass man die kulturellen Faktoren gegen die biologischen ausspielt." (ebd.: 366)

Wirtschaftliches, Psychologisches und Ideologisches stehen in einem dialektischen Prozess, deren Elemente aber eine gewisse Autonomie besitzen, besonders die ökonomische Entwicklung, die zwar von objektiven Faktoren wie den naturgegebenen Produktivkräften Faktoren, der Technik und geografischen Faktoren ihrerseits dazu beitragen, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozess zu prägen.

 "Wir erkennen, dass ökonomische, psychologische und ideologische Kräfte sich so auswirken, dass die Menschen auf Veränderungen in der äusseren Situation reagieren, indem sie sich selbst innerlich verändern, und dass diese psychologischen Faktoren ihrerseits dazu beitragen, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozess zu prägen. Ökonomische Kräfte üben eine starke Wirkung aus; aber man darf sie nicht als psychologische Motivationen, sondern muss sie als objektive Bedingungen verstehen. Psychogische Kräfte üben ihrerseits eine starke Wirkung aus, aber man muss sie selbst als historısch bedingt verstehen." (ebd.: 391)

Aus diesem Verständnis heraus erachtet es Fromm als die besondere Aufgabe des Sozialpsychologen, den Prozess der Selbsterzeugung des Menschen in der Geschichte zu verstehen" (1941a, GA l: 225):

"Der Mensch wird (...) nicht nur von der Geschichte geschaffen. Die Geschichte wird auch ihrerseits vom Menschen geschaffen. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs bildet das Aufgabenfeld der Sozialpsychologie. Die Aufgabe besteht darin, nicht nur zu zeigen, wie die Leidenschaften Wünsche und Ängste sich als Resultat des gesellschaftlichen Prozesses andern und entwickeln, sondern auch wie die so in bestimmte Formen geprägten Energien des Menschen ihrerseits zu produktiven Kräften werden, welche den gesellschaftlichen Prozess formen." (ebd.)

Innerpsychische Faktoren sind zwar von den äusseren Lebensbedingungen geprägt, haben aber auch ihre eigene Dynamik, "das heisst sie sind Ausdruck der menschlichen Bedürfnisse, die zwar formbar, aber nicht ausrottbar sind" (ebd.) Ebenso ist im Bereich der Ideologien eine analoge Unabhängigkeit festzustellen, "die auf logischen Gesetzen und auf dem überlieferten Wissensschatz beruht, der im Laufe der Geschichte erworben wurde". (ebd.)

Die Natur des Menschen ist nach Fromm nicht als etwas Starres anzusehen. Auch kann die Kultur nicht als das Ergebnis unwandelbarer menschlicher Instinkte aufgefasst werden, als etwas Feststehendes, dem sich dann die menschliche Natur einfach passiv anpasst. [100] Diesem Thema ist vor allem die Studie Psychoanalyse und Ethik (1947) gewidmet.

"Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, auf das erst die Kultur ihren Text schreibt. Er ist ein Wesen, das mit Energie ausgestattet und in besonderer Weise strukturiert ist. Er passt sich an und reagiert dabei in spezifischer und feststellbarer Weise auf äussere Bedingungen. Hätte sich der Mensch, wie es das Tier tut, durch eine Veränderung seiner eigenen Natur gleichsam autoplastisch, äusseren Bedingungen angepasst, und könnte er ausschliesslich unter solchen spezifischen Bedingungen leben, für die er eine besondere Anpassungsfähigkeit entwickelt hat, dann wäre er in die Sackgasse jener Spezialisierung geraten, die das Schicksal jeder Tiergattung ist, und eine geschichtliche Entwicklung wäre ausgeschlossen. Wenn sich der Mensch andererseits allen Bedingungen anpassen könnte, ohne dass er gegen solche ankämpfen müsste, die seiner Natur nicht entsprechen, dann hätte es ebenfalls keine Geschichte gegeben. (1947a, GA II: 19f.)

Voraussetzung für die menschliche Evolution ist Anpassungsfähigkeit. Der Mensch ist gezwungen, unablässig solche Bedingungen zu suchen, die seinen spezifischen Bedürfnissen am besten entsprechen. Er ist zwar weitgehend mit der Fähigkeit ausgestattet, sich auch gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen, die ein erhebliches Mass an Unfreiheit mit sich bringen (sogar Sklaverei), aber er reagiert darauf mit seelischen Störungen, mit neurotischen Symptomen, wie dies Freud für den Bereich der sexuellen Verdrängungen nachgewiesen hat.

"Der Mensch kann sich fast allen kulturellen Verhältnissen anpassen; stehen diese aber im Widerspruch zu seiner Natur, dann stellen sich seelische und emotionale Störungen ein, die ıhn allmählich zwingen, diese Verhältnisse zu ändern, da er seine Natur nicht ändern kann." (ebd.: 19)

Wie lässt sich nun die menschliche "Natur", der Mensch ın seiner Bedürftigkeit, näher bestimmen? In Die Furcht vor der Freiheit bleibt Fromm diesbezüglıch noch recht unbestimmt:

"Es gibt in der menschlichen Natur gewisse Faktoren, die festgelegt und unveränderlich sind: die Notwendigkeit, die physiologisch bedingten Triebe zu befriedigen, und die Notwendigkeit, Isolierung und seelische Vereinsamung zu vermeiden." (1941a, GA I: 230)

Schon etwas konkreter wird er in Wege aus einer kranken Gesellschaft:

"Zusammenfassend kann man sagen, dass sich der Begriff 'seelische Gesundheit' aus den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst ergibt und das er für alle Menschen gilt, unabhängig von allen Zeiten und Kulturen. Seelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, zu lieben und etwas zu schaffen, durch die Loslösung von den inzestuösen Bindungen an Klan und Boden, durch ein Identitätserleben, das sich auf die Erfahrung seiner selbst als dem Subjekt und dem Urheber der eigenen Kräfte gründet, durch das Begreifen der Realität innerhalb und ausserhalb von uns selbst, das heisst durch die Entwicklung zu Objektivität und Vernunft." (1955a, GA IV: 52) [101]

Fromm konkretisiert seine Bedürfnislehre nochmals im Aufsatz Die Auswirkungen eines triebtheotischen 'Radikalismus' auf den Menschen. Eine Antwort auf Herbert Marcuse:

"Der Mensch, der sich seiner selbst bewusst ist, hat die Welt der Natur transzendiert: Er ist Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Gleichzeitig bleibt er Teil der Natur, und aus diesem Widerspruch erklären sich seine grundlegenden Leidenschaften und Strebungen, sein Bedürfnis, zu andern Menschen in Beziehung zu treten, sein Bedürfnis, seine eigene Rolle als Geschöpf dadurch zu transzendieren, dass er selber schafft (oder zerstört), sein Bedürfnis, ein ldentitätsgefühl und einen Rahmen der Orientierung sowie ein Objekt der Hingabe zu haben. Diese Bedürfnisse müssen jedoch erfüllt werden, wenn der Mensch nicht wahnsinnig werden soll. Andererseits ist die Erfüllung aller triebhaften Bedürfnisse – einschliesslich der sexuellen – noch keine ausreichende Vorbedingung für Glück, ja nicht einmal für geistige Gesundheit. Mein Begriff der menschlichen Existenz ist nicht weniger real als der Triebbegriff, und er ist keineswegs idealistisch. Er ist weiter gefasst und begriffen in Richtung auf Aktivität und Praxis und gründet sich nicht auf eine spezifische physiologische Substanz." (1955b, GA VIII: 116) [102]

Ihre reichste Ausgestaltung erfährt Fromms Bestimmung der "existenziellen Bedürfnisse" im grossen Spätwerk Anatomie der menschlichen Destruktivität, wo Fromm auf die Frage eingeht, "wie man das 'Wesen' oder die 'Natur' des Menschen definieren könnte". Seine Antwort:

"Ich glaube nicht, dass man die menschliche Natur mit einer bestimmten Eigenschaft positiv definieren könnte, wie etwa mit Liebe, Hass, Vernunft, dem Guten oder dem Bösen, sondern nur mit den fundamentalen Widersprüchen, die die menschliche Existenz charakterisieren und die letztlich auf die biologische Dichotomie zwischen den fehlenden lnstinkten und dem Bewusstsein seiner selbst zurückzufuhren sind. Der existenzielle Konflikt im Menschen erzeugt bestimmte physische Bedürfnisse, die allen Menschen gemeinsam sind. Er ist gezwungen, das Entsetzen vor seiner lsoliertheit, seiner Machtlosigkeit und seiner Verlorenheit zu überwinden und neue Formen des Bezogenseins zur Welt zu finden, durch die er sich in ihr zu Hause fühlen kann." (1973a, GA VII: 204) [103]

In den folgenden Unterkapiteln führt er diese psychischen Erfordernisse dann im Einzelnen an. [104] Dabei legt er grossen Wert auf den Nachweis, dass die "existenziellen Bedürfnisse" zu allen Zeiten vorhanden sind. Hervorzuheben ist, dass Fromms Hauptquelle für die Erforschung der seelischen Struktur des "primitiven" Menschen die Geschichte der prähistorischen Religion und Kunst ist.

"Nicht unser bewusstes Denken, sondern jene Kategorien unseres Denkens und Fühlens, die in unserem Unbewussten verborgen liegen und die trotzdem den Kern aller Erfahrungen bei allen Menschen aller Kulturen ausmachen; kurz, es handelt sich um das, was ich als das 'primäre menschliche Erlebnis' bezeichnen möchte." (ebd.: 205)


α) Rahmen der Orientierung und Objekt der Hingabe

Der Mensch, der mit Bewusstsein seiner selbst, Vernunftbegabung und Vorstellungsvermögen ausgestattet ist, muss sich ein Bild von der Welt und seinem Platz darin machen. Er benötigt eine Struktur, eine "Landkarte" der natürlichen und sozialen Welt, um nicht in Verwirrung zu geraten durch die auf ihn einstürmenden Eindrücke. Wie er dies tut, spielt vorerst keine Rolle.

"Seine Welt hat einen Sinn für ihn, und die Übereinstimmung mit dem Weltbild seiner Umgebung macht seine Ideen subjektiv zu Wahrheiten. Selbst wenn das Weltbild nicht stimmt, so erfüllt es doch seine psychologische Funktion." (ebd.: 208)

Ein solcher Orientierungsrahmen ist in jeder Kultur zu jeder Epoche auffindbar. Das Bewusstsein vom Vorhandensein dieses Grundbedürfnisses erleichtert auch das Verständnis für die Faszination irrationaler Doktrinen politischer oder religiöser Art auf die Zeitgenossen.

"Der Mensch wäre vermutlich weniger leicht beeinflussbar, hätte er nicht ein so vitales Bedürfnis nach einem in sich geschlossenen Orientierungsrahmen. Je mehr eine Ideologie vorgibt, alle Fragen widerspruchslos beantworten zu können, umso attraktiver ist sie". (ebd.)

Aber die Orientierung genügt noch nicht. Der Mensch braucht auch ein Ziel, das ihm die Richtung für seinen Weg weist – ein Problem, das Tiere in ihrer lnstinkthaftigkeit nicht kennen, Er benötigt ein Objekt für seine völlige Hingabe, als Brennpunkt für all sein Streben und als Basis für seine Werte. Dadurch wird seine Energie in eine Richtung gebündelt, es "hebt ihn über seine isolierte Existenz mit all ihren Zweifeln und Unsicherheiten hinaus und verleiht seinem Leben Bedeutung". (ebd.: 209) Im Transzendieren des isolierten Ichs verlässt der Mensch den Käfig seines Narzissmus.

"Er kann sich den verschiedensten Zielen und Idolen hingehen; während es jedoch von ungeheurer Wichtigkeit ist, welchen Göttern seine Hingabe gilt, das Bedürfnis nach Hingabe selbst ist ein primäres, existenzielles Bedürfnis, das auf Erfüllung drängt ohne Rücksicht darauf, wie es erfüllt wird." (ebd.)


β) Verwurzelung

Mit der Geburt verlässt das Kind die Sicherheit des mütterlichen Leibes, "die Situation, in der es noch Teil der Natur war – wo es durch den Körper der Mutter lebte”. (ebd.)

"lm Augenblick der Geburt ist es noch symbiotisch mit der Mutter verbunden, und selbst nach der Geburt bleibt es das noch länger als die meisten anderen Lebewesen. Dennoch bleibt auch nach der Trennung ein tiefes Sehnen danach, das ursprüngliche Band nicht zu verlieren, ein tiefes Sehnen, sie ungeschehen zu machen, in den Mutterleib zurückzukehren oder eine neue Situation zu finden, die absoluten Schutz und Geborgenheit garantiert." (ebd.)

Der Weg der Menschheit zurück ins Paradies ist allerdings versperrt durch die biologische, speziell durch die neurophysiologische Konstitution des Menschen. Die einzige Alternative, die sich ihm eröffnet, ist das Beharren auf der Regression, wofür er "mit seiner symbiotischen Abhängigkeit von der Mutter (und symbolischen Substituten wie Erde, Natur, Gott, Nation oder einer Bürokratie) bezahlen (ebd.: 210) muss, oder das Fortschreiten zu neuen Verwurzelungen in der Welt, "indem er die Bruderschaft aller Menschen erlebt und sich von der Macht der Vergangenheit freimacht". (ebd.)

Die seelisch-geistige Gesundheit des Menschen hangt ab von der Überwindung seiner Isolierung, wofür verschiedene Möglichkeiten offenstehen:

"Er kann andere lieben. was Unabhängigkeit und Produktivität erfordert, oder er kann dies symbiotisch tun, das heisst, er kann ein Teil von ihnen werden oder sie zu einem Teil seines eigenen Ich machen. In dieser symbiotischen Beziehung strebt er entweder danach, andere zu beherrschen (Sadismus) oder von ihnen beherrscht zu werden (Masochismus). Wenn weder der Weg der Liebe noch der der Symbiose offen ist, kann er das Problem dadurch lösen, dass er sich nur auf sich selbst bezieht (Narzissmus)." (ebd.: 210)

 

¥) Einheitserleben

Der Mensch würde seine existenzielle Gespaltenheit nicht ertragen, "wenn er nicht ein Einheitserleben in sich selbst und mit der natürlichen und menschlichen Welt ausserhalb erstellen könnte". (ebd )

Auch auf dieses existenzielle Bedürfnis kann der Mensch verschieden reagieren, etwa indem er sein Bewusstsein narkotisiert, indem er sich in einen Zustand der Ekstase oder Trance versetzt (durch Drogen, sexuelle Orgien, Fasten, Tanzen und andere Rituale). Er kann die Identifikation mit einem Tier suchen (Totemismus), oder all seine Energien einer verzehrenden Leidenschaft unterordnen (zum Beispiel Zerstörung, Macht, Spiel, Ruhm oder Besitz).

"'Sich vergessen' in dem Sinne, dass man seine Vernunft narkotisiert, ist das Ziel all dieser Versuche, die Einheit mit sich selbst wiederherzustellen. Es ist ein tragischer Versuch in dem Sinn, dass er entweder nur für einen Augenblick Erfolg hat (wie im Zustand der Trance oder der Trunkenheit oder dass er selbst dann, wenn er von Dauer ist (wie bei der Leidenschaft des Hasses oder dem leidenschaftlichen Verlangen nach Macht) den Menschen verkrüppelt, ihn anderen entfremdet, sein Urteil verzerrt und ihn von dieser speziellen Leidenschaft ebenso abhängig macht, wie ein anderer von harten Drogen abhängig sein mag." (ebd.: 211) [105]

Für Fromm ist nur jener Weg zur Einheit erfolgversprechend, der in allen hochentwickelten Gesellschaften von den "grossen Lehrern der Religion" vorgeschlagen wurde:

" (...) dass der Mensch die Einheit nicht durch das tragische Bemühen erringen kann, seine innere Zerspaltenheit durch Ausschaltung der Vernunft aufzuheben, sondern allein dadurch, dass er seine Vernunft und seine Liebe voll entwickelt. So gross die Unterschiede zwischen Taoismus, Buddhismus, dem prophetischen Judentum und dem Christentum der Evangelien sein mögen, haben diese Religionen doch das eine Ziel gemeinsam: zum Erlebnis des Einsseins zu gelangen, und zwar nicht durch Regression zur tierischen Existenz, sondern dadurch, dass man ganz Mensch wird – eins in sich selbst, eins mit den Mitmenschen, eins mit der Natur." (ebd.) [106]

Eine ganz andere, zutiefst negative "Lösung" bietet die gegenwärtige "kybernetische Gesellschaft" an: Der Mensch soll sich mit seiner gesellschaftlichen Rolle identifizieren, wodurch er sich – sozusagen in einer "negativen Ekstase" (ebd.: 212) – alles Persönliche aufgibt und sich zu einem Ding machen lässt.

 

δ) Wirkmächtigkeit

Wenn sich der Mensch nur völlig passiv, als blosses Objekt, erlebte, würde er vom Gefühl der Ohnmacht überwältigt, er empfände seinen Willen und seine Identität nicht mehr. Zur Vermeidung dieses Gefühls muss er etwas bewirken können, zu etwas fähig sein. Auch hier sind mannigfache Möglichkeiten gegeben, vom Hervorrufen eines Lächelns beim Säugling über das Wecken von Interesse bei einem Gespräch bis zum sadistischen Hervorrufen von Angst bei Mitmenschen oder zum Zerstören dessen, was andere aufgebaut haben.

"Das Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit kommt in den interpersonalen Beziehungen ebenso zum Ausdruck wie in der Beziehung zu Tieren, zur unbelebten Natur und zu Ideen. In der Beziehung zu andern besteht die grundsätzliche Alternative darin, dass man entweder die Macht in sich fühlt, Liebe hervorzurufen oder Angst und Leiden zu bewirken. ln der Beziehung zu Dingen besteht die Alternative darin, entweder etwas aufzubauen oder es zu zerstören." (ebd.: 214) [107]

Fromm betont, dass die Beschäftigung mit den psychischen Folgen des Fehlens von Wirkmächtigkeıt – deren sexuelle Variation der Impotenz er als einen ihrer untergeordneten Aspekte bezeichnet -, mit Depression und Langeweile, erkennen lässt, dass es sich hierbei um "eines der schmerzlichsten und fast unerträglichen Erlebnisse" (ebd.) handelt, das der Mensch mit allen Mitteln, "von der Arbeitswut oder Drogen bis zu Grausamkeit und Mord" (ebd.) zu überwinden sucht. [108]

 

ε) Erregung und Stimulation

Obwohl Fromm in seiner Darlegung von den Erkenntnissen der modernen Physiologie ausgeht, die er kurz darstellt, bezieht sich seine Vorstellung von Erregung und Stimulation als menschlichem Grundbedürfnis viel stärker auf den psychologischen Aspekt des Phänomens.

"Ein derartiger aktivierender Stimulus könnte zum Beispiel ein Roman, ein Gedicht, eine Landschaft, ein Musikstück oder eine geliebte Person sein. Keiner dieser Reize verursacht eine einfache Reaktion; sie fordert uns sozusagen auf zu reagieren, indem wir uns aktiv und teilnehmend auf diese Reize beziehen: dass wir an unserem 'Objekt' aktiv interessiert werden und immer neue Aspekte an ihm sehen und entdecken (...) Wir bleiben nicht das passive Objekt, auf das der Reiz einwirkt, nach dessen Melodie unser Körper zu tanzen hat. Stattdessen bringen wir unsere eigenen Fähigkeiten zum Ausdruck, indem wir zur Welt bezogen sind. Wir werden aktiv und produktiv. Der einfache Stimulus produziert einen Trieb, das heisst, der Betreffende wird davon angetrieben; der aktivierende Stimulus mobilisiert ein Streben, das heisst, der Betreffende strebt aktiv nach einem bestimmten Ziel." (ebd.: 216)

Gerade das Leben in der lndustriegesellschaft ist fast gänzlich auf solche "einfachen Reize" reduziert, durch die "Triebe wie sexuelles Begehren, Gier, Sadismus, Destruktivität und Narzissmus" (ebd.: 217) stimuliert werden, vermittelt durch die Massenmedien und ihre Werbeträger.

Wozu die menschlichen Anlagen befähigen, lässt sich nach Fromm im Verhalten von kleinen Kindern beobachten, die dieser der Gehirnwäsche ähnlichen Deformierung noch nicht ausgesetzt worden sind, was sich allerdings schnell ändert, "wenn sie in die Erziehungsmühle geraten" (ebd.: 218), wo sie fügsam und passiv werden, ihre Spontaneität verlieren und alsbald nach Formen von Stimulation verlangen, bei denen sie in Passivität verharren können.

 

ζ) Entwicklung einer Charakterstruktur 

Mit der ständig abnehmenden Bedeutung der menschlichen lnstinktausrüstung verbunden ist "ein Bedürfnis anderer Art, das ausschliesslich in der menschlichen Situation verwurzelt ist – das Bedürfnis nach der Entwicklung einer Charakterstruktur". (ebd.: 227) Bereits an einer früheren Stelle der "Anatomie der menschlichen Destruktivität" hat Fromm darauf hingewiesen, " (...) dass der Charakter ein relativ permanentes System aller nicht-instinktiven Triebe ist, durch die der Mensch sich mit der menschlichen und der natürlichen Welt in Beziehung setzt. Man kann den Charakter als menschlichen Ersatz für den fehlenden tierischen Instinkt verstehen; er ist die zweite Natur des Menschen." (ebd.: 204)

Beim Charakter handelt es sich um die spezielle Struktur, in der die menschliche Energie organisiert ist; durch sie wird das Verhalten auf seine dominierenden Ziele hin motiviert. [109] Die Erweiterung des Charakterbegriffs, Fromms Konzeption des Gesellschaftscharakters, lässt verstehen, dass jede Sozietät oder soziale Klasse gezwungen ist, die menschliche Energie so zu kanalisieren, wie es für das Funktionieren der Gesamtgesellschaft nötig ist. [110]

"Ihre Mitglieder müssen das tun wollen, was sie tun müssen, wenn die Gesellschaft richtig funktionieren soll." (ebd.: 228)

Zusammenfassend betont Fromm noch einmal, dass die Vorstellung irrig ist, die existenziellen Bedürfnisse des Menschen seien zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten immer wieder in gleicher Weise befriedigt worden. Die Variationsbreite in der Bedürfnisdeckung ist nach seinem Dafürhalten beachtlich und sollte nicht unterschätzt werden. [111]

"Das Bedürfnis nach einem Objekt der Hingabe kann durch Liebe und Freundlichkeit – oder durch Abhängigkeit und Sadismus, Masochismus an destruktiven Idolen befriedigt werden. Das Bedürfnis nach Bezogenheit zu andern kann durch Liebe und Freundlichkeit – oder durch Abhängigkeit, Sadismus, Masochísmus und Destruktivität befriedigt werden. Das Bedürfnis nach Einheitserleben und Verwurzelung kann durch leidenschaftliche Hingabe an Solidarität, Brüderlichkeit, Liebe und durch mystische Erlebnisse befriedigt werden – oder auch durch Trunkenheit, Drogenabhängigkeit oder Entpersönlichung. Das Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit kann durch Liebe und produktive Arbeit befriedigt werden – oder auch durch Sadismus und Destruktivität. Das Bedürfnis nach Stimulation kann durch ein produktives Interesse an Menschen, Natur, Kunst und Ideen befriedigt werden – oder auch durch die gierige Jagd nach immer neuen Vergnügungen." (ebd.: 229f.) [112]

 

3) Vom Matriarchat zum Patriarchat – Parallele von Ontogenese und Phylogenese

In Fromms Sicht beruht die Evolution des Menschen auf der Vertreibung aus seiner "ursprünglichen Heimat", der "Natur". Die Rückkehr zu ihr ist unmöglich, der Mensch kann höchstens im Wahnsinn wieder zum Tier werden. Als einzige menschliche Möglichkeit bleibt ihm, "seine natürliche Heimat zu verlassen und eine neue Heimat zu suchen" (1955a, GA IV: 22), die er sich selbst schafft, indem er die Welt zu einer menschenwürdigen macht und darin "wahrhaft menschlich" wird.

"Wenn der Mensch geboren wird – die menschliche Rasse ebenso wie der einzelne Mensch –, muss er einen Zustand verlassen, der so sicher und begrenzt ist. wie es der durch Instinkte bestimmte Zustand war. Er gerät in einen unbestımmten, ungewissen und offenen Zustand. Gewissheit gibt es nur über die Vergangenheit und über die Zukunft so weit, als dies den Tod betrifft, der in Wirklichkeit die Rückkehr in die Vergangenheit, in den anorganischen Zustand der Materie ist." (ebd.)

Verläuft die Entwicklung "normal", so gewinnt die Tendenz zum Wachstum die Oberhand, während in pathologischen Fällen die Regression hin zur symbıotıschen Vereinigung Überhand nimmt. In ihr kann der Mensch sein Vermögen zur Individuation fast völlig verlieren.

"Handlungen, Gedanken und Gefühle, die ein richtiges Funktionieren und die Entfaltung unserer Gesamtpersönlichkeit fördern, rufen ein Gefühl der inneren Zustimmung, der Richtigkeit hervor. Dieses ist charakteristisch für das humanistische 'gute Gewissen'.

   Anderseits rufen Handlungen, Gedanken und Gefühle, die für unsere Gesamtpersönlichkeit schädlich sind, ein Gefühl der inneren Unruhe und des Unbehagens hervor. Dieses ist charakteristisch für das 'schlechte Gewissen'. Gewissen ist also die Re-Aktion unseres Selbst auf uns selbst. Es ist die Stimme unseres wahren Selbst, die uns auf uns selbst zurückruft, produktiv zu leben, uns ganz und harmonisch zu entwickeln – das heisst zu dem zu werden, was wir unserer Möglichkeit nach sind. (1947a, GA ll: 101f.)

Das "gute Gewissen" bezeichnet Fromm auch als das "humanistische Gewissen" und als "die Stimme unserer liebenden Fürsorge für uns selbst" (ebd.), während er das "schlechte Gewissen" als Ausdruck des "autoritären Gewissens" interpretiert, das Gehorsam, Selbstaufopferung, Pflicht oder gesellschaftliche Anpassung verlangt. [113]

"Der Unterschied zwischen dem humanistischen und dem autoritären Gewissen besteht nicht darin, dass Letzteres durch die kulturelle Überlieferung geformt wird, während das Erstere sich selbständig entwickelt. Vielmehr gleicht das Gewissen in dieser Hinsicht unseren Sprach- und Denkfähigkeiten, die sich ebenfalls nur im gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang entwickeln, obwohl sie dem Menschen als Möglichkeiten innewohnen. (ebd.: 109)

In den vergangenen fünf- bis sechstausend Jahren hat die menschliche Rasse im Laufe ihrer kulturellen Entwicklung in religiösen und philosophischen Gedankengebäuden Sittengesetze ausformulıer, an denen jeder Einzelne sein Gewissen ausrichten muss, wenn er den kulturellen Weg der Menschheit nicht wieder von vorne beschreiten will. Allerdings neigten die Vertreter der verschiedenen Systeme aus persönlichen Interessen immer wieder dazu, die Differerenzen zwischen den einzelnen Systemen zu betonen und den gemeinsamen Kern in den Hintergrund treten zu lassen.

"Vom menschlichen Standpunkt aus sind jedoch die gemeinsamen Elemente dieser Lehren wichtiger als ihre Unterschiede. Begreifen wir das Einschränkende und Verzerrende dieser Lehren als Ergebnis der besonderen historischen, sozioökonomischen und kulturellen Situation ihrer Entstehungszeit, so werden wir verblüffende Übereinstimmungen bei allen Denkern finden, denen die Entwicklung und das Glück des Menschen am Herzen lag." (ebd.)

Die menschliche Entwicklung sieht Fromm in der Parallele von Ontogenese und Phylogenese, von menschlicher und menschheitlicher Entwicklung. [114] So wie das Kind im Schoss der Mutter gezeugt wird und heranwächst, aus ihm geboren und dann für immer von der Nabelschnur getrennt wird, wie es in einem langen Entwicklungsprozess von der mütterlichen Geborgenheit Abschied zu nehmen und sich als Individuum zu bewähren hat, muss auch die Gattung Mensch jenen Weg einschlagen, der im Mythos vom Goldenen Zeitalter und besonders in der biblischen Erzählung vom Verlorenen Paradies symbolhaft ausgedrückt ist.

Zur Dokumentation dieses fundamentalen Frommschen Gedankens, der in der Sekundärliteratur meiner Meinung nach nicht die nötige Beachtung findet, zitiere ich hier eine Passage aus dem Werk Die Seele des Menschen, die recht aufschlussreich ist:

" (...) die unverkennbare Tatsache, dass das Kind eine Person braucht, die es bemuttert, hat die Tatsache in den Schatten gestellt, dass nicht nur das Kind hilflos ist und sich nach Sicherheit sehnt, sondern dass auch der Erwachsene in vielerlei Hinsicht nicht weniger hilflos ist. Er kann zwar arbeiten und die ihm von der Gesellschaft zugewiesenen Aufgaben erfüllen, aber er ist sich auch der Gefahren und Risiken des Lebens mehr bewusst als das Kleinkind und weiss Bescheid über die Naturkräfte, die sich seiner Kontrolle entziehen, über die Zufälle, die er nicht voraussehen kann. Was wäre unter diesen Umständen natürlicher, als dass er sich leidenschaftlich nach einer Macht sehnt, die ihm Sicherheit, Schutz und Liebe gewährt? Dieser Wunsch ist nicht nur eine Wiederholung seiner Sehnsucht nach der Mutter; er entsteht, weil genau die gleichen Bedingungen, die das Kleinkind veranlassen, sich nach der Liebe der Mutter zu sehnen, weiter fortbestehen, wenn auch auf einer anderen Ebene. Wenn die Menschen – Männer wie Frauen – eine 'MUTTER' für den Rest ihres Lebens finden könnten, dann gäbe es in ihrem Leben kein Risiko und keine Tragödie mehr." (1964a, GA II: 226)

So kann es nicht verwundern, wenn der Mensch mit allen Kräften dieser Fata Morgana nachjagt.

"Aber der Mensch weiss auch mehr oder weniger klar, dass er das verlorene Paradies nicht wiederfinden kann, dass er dazu verurteilt ist, mit der Ungewissheit und dem Risiko zu leben, dass er sich auf seine eigenen Anstrengungen verlassen muss, und dass ihm nur die volle Entwicklung seiner eigenen Kräfte ein gewisses Mass an Stärke und Furchtlosigkeit verschaffen kann. So wird er vom Augenblick seiner Geburt an zwischen zwei Tendenzen hin- und hergerissen: Einerseits möchte er ans Licht kommen, und andererseits sehnt er sich nach Sicherheit; einerseits lockt ihn das Risiko der Unabhängigkeit, und andererseits sucht er nach Schutz und Abhängigkeit." (ebd.: meine Hervorh.)

So ist "die Geburt des Menschen (...) ontogenetisch wie phylogenetisch im Wesentlichen ein negatives Ereignis" (1955a, GA IV: 21). Dem Menschen fehlt die instinktive Anpassung an die Natur und die andern Kreaturen eigene physische Stärke; auch seine verstandesmässigen Anlagen sind sehr schwach.

"Er kennt weder die Naturprozesse- noch besitzt er die Werkzeuge, die seine verlorenen lnstinkte ersetzen könnten. Er lebt in kleine Gruppen aufgeteilt und kennt weder sich selbst noch die anderen. Seine Situation kommt in der Tat im biblischen Mythos vom Paradies ganz klar zum Ausdruck. Der Mensch, der im Garten Eden in vollkommener Harmonie mit der Natur, aber ohne ein Bewusstsein seiner selbst lebt, beginnt seine Geschichte mit dem ersten Akt der Freiheit, dem Ungehorsam gegen ein Gebot. Gleichzeitig wird er sich seiner selbst, seiner Abgesondertheit, seiner Hilflosigkeit bewusst; er wird aus dem Paradies vertrieben, und zwei Engel mit feurigem Schwert hindern ihn an der Rückkehr." (ebd.: 21f.) [115]

Wenn der Mensch sich nicht von der mütterlichen Symbiose – im biografischen ebenso wie im globalhistorischen Sinne – lösen kann, gelangt er nicht zur Unabhängigkeit und Freiheit, und er ist unfähig, Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Objekt einer Bindung nach diesem Muster kann über die "Mutter" hinaus auch die Familie, das Volk oder die eigene Rasse sein.

"Da diese Fixierungen als Tugenden angesehen werden, führt eine starke nationale oder religiöse Bindung leicht zu voreingenommenen und verzerrten Urteilen, die für die Wahrheit gehalten werden, weil sie von allen anderen, die an dieser Bindung teilhaben, geteilt werden." (1964a, GA ll: 232f.)

Als zweites wichtiges "pathologisches Merkmal" der ínzestuösen Fixierung nennt Fromm (neben der Beeinträchtigung des Vernunftvermögens) die Unfähigkeit, "in einem anderen menschlichen Wesen einen vollwertigen Menschen zu sehen" (ebd.: 233). Nur wer vom gleichen Blut ist oder dem gleichen Boden entstammt, wird als Mensch anerkannt, während der Fremde als "Barbar" gilt. [116]

Dieses [gegenüber Freuds Auffassung) erweiterte Verständnis von "inzestuöser Fixierung" umfasst nach Fromm drei wichtige pathologische Symptome: 1) die Beeinträchtigung des gesunden Urteils durch national oder religiös geprägte Vorurteile; 2) die Unfähigkeit, in einem andern menschlichen Wesen einen vollwertigen Menschen zu sehen, was den Fremden zum "Barbaren" macht. Dies hat zur Folge. "dass auch ich mir selbst ein 'Fremder' bleibe, da ich die Menschheit nur in der verkrüppelten Form erleben kann, die durch die Gruppe mit gemeinsamem Blut repräsentiert wird" (ebd.). Dadurch wird die Fähigkeit zu lieben stark beeinträchtigt oder – bei noch intensiverer Regression – gar zerstört; 3) der Konflikt mit den Kräften der Unabhängigkeit und Integrität:

"Ein an die Mutter und den Stamm gebundener Mensch besitzt nicht die Freiheit, er selbst zu sein, eine eigene Überzeugung zu haben und eine eigene Verpflichtung einzugehen. Er kann sich nicht der Welt öffnen und kann sie nicht ganz in sich hineinnehmen: er befindet sich stets im Gefängnis seiner rassisch-nationalreligiösen Mutterbindung. Nur in dem Mass, wie ein Mensch sich von allen Arten inzestuöser Bindungen freimacht, ist er ganz geboren und kann unbehindert voranschreiten und er selbst werden." (ebd.)

Das Inzestproblem beschränkt sich bei Fromm keineswegs nur auf die Bindung an die Mutter: diese ist nur "die elementarste Form aller natürlichen Blutsbindungen, die dem Menschen das Gefühl des Verwurzeltseins und der Zugehörigkeit geben." (1955a, GA IV: 33)

"Die Blutsbindungen werden auch auf andere Blutsverwandtschaften ausgedehnt, die jeweils dem System entsprechen, in dem solche Beziehungen angeknüpft werden. Die Familie und die Sippe und später der Staat, die Nation oder die Kirche übernehmen die gleiche Funktion, welche die individuelle Mutter ursprünglich für das Kind hatte. Der Einzelne lehnt sich dann an diese Institutionen an, er fühlt sich darin verwurzelt, er identifiziert sich mit ihnen und fühlt sich als Teil von ihnen und nicht als ein von ihnen getrenntes Individuum. Wer nicht zur gleichen Sippe gehört, wird als fremd und gefährlich angesehen – als jemand, der nicht die gleichen Eigenschaften besitzt, wie sie nur die eigene Sippe hat." (ebd.)

In der hypothetischen matriarchalischen Gesellschaft Bachofens sieht Fromm aber nicht einfach nur negative Züge, sondern durchaus auch Elemente, die er für die Vision einer künftigen harmonischen Gesellschaft dialektisch bewahren möchte:

"Der positive Aspekt ist ein Gefühl der Lebensbejahung, der Freiheit und Gleichheit, das die gesamte matriarchalische Struktur kennzeichnet. lnsofern die Menschen Kinder der Natur und Kinder von Müttern sind, sind sie alle gleich, haben sie die gleichen Rechte und Ansprüche, und der einzige Wert, auf den es ankommt, ist das Leben. Anders ausgedrückt, die Mutter liebt ihre Kinder nicht deshalb, weil das eine besser ist als das andere, nicht weil das eine ihre Erwartungen mehr erfüllt als das andere, sondern weil sie alle ihre Kinder sind und weil sie sich in dieser Eigenschaft alle gleich sind und das gleiche Anrecht auf ihre Liebe und Fürsorge haben." (ebd.: 36)

Auf das Matriarchat, dessen Historizität wie gesagt nicht erwiesen ist, folgt in Fromms Sichtweise dann auf dem Weg zu mehr Freiheit und Unabhängigkeit die Epoche des Patriarchats.

"Das nächste Stadium der menschlichen Entwicklung, das Einzige, von dem wir genaue Kenntnis haben und bei dem wir nicht auf Rückschlüsse und Rekonstruktionen angewiesen sind, ist die patriarchalische Phase. In dieser Phase wird die Mutter von ihrer alles beherrschenden Stellung entthront, und der Vater wird in der Religion wie auch in der Gesellschaft zum höchsten Wesen. Das Wesen der väterlichen Liebe besteht darin, dass er Forderungen stellt, dass er Gesetze aufstellt und dass seine Liebe zu seinem Sohn davon abhängt, ob dieser seinen Befehlen gehorcht. Er liebt denjenigen Sohn am meisten, der ihm am ähnlichsten ist, der ihm am meisten gehorcht und sich am besten zu seinem Nachfolger als Erbe seines Besitzes eignet. (Die Entwicklung der patriarchalischen Gesellschaft geht Hand in Hand mit der Entwicklung des Privateigentums.)" (1956a, GA IX: 479: meine Hervorh.)

Die patriarchalische Gesellschaft, die jene des Matriarchats ablöst, ist straff gegliedert und organisiert. Die Gleichheit der Brüder weicht dem Geist des Wettbewerbs und des -streites, und dies sowohl in der indischen, ägyptischen wie in der griechischen, jüdisch-christlichen und islamischen Gesellschaft – "immer stehen wir inmitten einer patriarchalischen Welt mit ihren männlıchen Göttern, über die ein Hauptgott regiert oder wo alle Götter ausser dem Einen, dem Gott, abgeschafft werden" (ebd.).

"Die positiven Aspekte des patriarchalischen Komplexes sind Vernunft, Disziplin, Gewissen und Individualismus: die negativen Aspekte sind Hierarchie, Unterdrückung." (1955a, GA IV, 37)

In der Vorstellung eines unsichtbaren und unendlichen Gottes wird das "einigende Prinzip allen Lebens" repräsentiert, an dessen Eigenschaften der Mensch als "Ebenbild Gottes" partizipiert.

"Dieser Prozess erreichte um die Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christus in China mit Konfuzius und Lao-tse eine neue Phase; in Indien geschah es mit Buddha, in Griechenland mit den Philosophen der griechischen Aufklärung und in Palästina mit den biblischen Propheten. Dann wurde mit dem Christentum und der Stoa im Römischen Imperium, mit Quetzalcoatl in Mexiko und noch ein halbes Jahrhundert später mit Mohammed in Afrika ein neuer Hohepunkt erreicht." (ebd.: 40) [117]

Fromm sieht die westliche Kultur auf zwei Pfeilern errichtet: auf der indischen und der griechischen. Die jüdische Tradition, deren Fundamente im Alten Testament liegen, widerspiegelt "eine relativ reine Form einer patriarchalischen Kultur, die sich auf die Macht des Vaters in der Familie, auf die des Priesters und des Königs in der Gesellschaft und auf die des väterlichen Gottes im Himmel aufbaut" (ebd.). ln ihr kann man aber immer noch alte matriarchalische Elemente erkennen, die sich aus den erd- und naturgebundenen tellurischen Regionen erhalten haben (zum Beispiel im jüdischen Erbrecht). Diese wurden während des zweiten vorchristlichen Jahrtausends von den "rationalen", "patriarchalischen" Religionen verdrängt.

"ln der biblischen Schöpfungsgeschichte finden wir den Menschen noch in einer urtümlichen Einheit mit dem Boden. Noch braucht er nicht zu arbeiten, noch besitzt er kein Bewusstsein seiner selbst. Die Frau ist die klügere, aktivere und mutigere von beiden, und erst nach dem 'Sündenfall' verkündet der patriarchalische Gott den Grundsatz, dass der Mann über der Frau herrschen solle. Das gesamte Alte Testament ist die Entfaltung des patriarchalischen Prinzips durch die Errichtung eines hierarchischen theokratischen Staates und durch eine strenge patriarchalische Familienorganisation." (ebd.: 40)

Ausdruck davon ist in Fromms Verständnis die Verhängung eines strengen lnzesttabus und des Verbotes, sich an den Boden zu binden, denn "nach der Bibel beginnt die Menschheitsgeschichte mit der Austreibung des Menschen aus dem Paradies, von dem Boden, in dem er verwurzelt war und mit dem er sich eins gefühlt hat". (ebd.: 41)

Auf das griechische Fundament der westlichen Kultur geht Fromm starker in Märchen, Mythen, Träume (1951a) ein, wobei er sich eng an Bachofen hält. Die griechische Mythologie wie auch die Dramen von Sophokles sind ihm Ausdruck des Kampfes zwischen der älteren, matriarchalischen Formation und dem siegreichen Patriarchat. Seine Analyse der gesamten Ödipus-Trilogie (Fromm wirft Freud vor, einzelne Motive aus dem Sagenkomplex herausgerissen zu haben) zielt auf den Nachweis, "dass der Kampf gegen die väterliche Autorität das Hauptthema ist, und dass die Ursprünge dieses Kampfes weit zurückreichen, bis in die uralten Kämpfe zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Gesellschaftssystem". (1951a, GA IX: 277)

In den griechischen Göttermythen entspringt Pallas Athene genauso dem Kopf des Göttervaters Zeus, wie im jüdischen Mythos Eva aus der Rippe Adams geformt wird; das männliche Prinzip beansprucht ontologisch den Vorrang vor dem weiblichen und schafft sich die entsprechenden Herkunftsmythen.

Doch während die Geschichte "für die Griechen keinem Endziel zustrebte, ist für die jüdisch-christliche Geschichtsauffassung der Gedanke kennzeichnend, dass der ihr innewohnende Sinn die Erlösung des Menschen sei". (1951a, GA IV: 164f.)

Symbol für den Gedanken einer endgültigen Auflösung der Geschichte und des damit verbundenen Kampfes um Entfaltung der menschlichen Kräfte ist der Messias, personifiziert als Erlöser oder aufgefasst als künftige Periode, als messianische Zeit.

Allerdings gibt es nach Fromms Darstellung "zwei verschiedene Auffassungen über das eschaton, das 'Ende der Tage', das Ziel der Geschichte". (ebd.: 165) [118] In der einen wird der biblische Mythos von Adam und Eva mit dem Begriff der Erlösung in Verbindung gebracht: Der Mensch muss nach seiner Vertreibung aus dem Garten Eden seine Vernunft entwickeln, um seine volle Menschlichkeit zu entfalten und eine neue Harmonie mit der Natur zu erringen.

"Das Ziel der Geschichte ist die volle Geburt des Menschen, seine volle Humanisierung: 'denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist" (Jes, 11,9). Alle Völker werden eine einzige Gemeinschaft bilden, und die Schwerter werden zu Pflugscharen umgeschmiedet werden.

   (...) Bei dieser Auffassung vollzieht Gott keinen Gnadenakt. Der Mensch muss durch viele Irrtümer hindurch, er muss sündigen und die Folgen auf sich nehmen. Gott löst seine Probleme nicht für ihn, wenn er ihm auch die Ziele des Lebens offenbart. Der Mensch muss sich selbst erlösen, er muss seine eigene Geburt herbeiführen. Dann wird am Ende der Tage die neue Harmonie, der neue Friede zustande kommen. (...) Der über Adam und Eva verhängte Fluch wird gewissermassen durch die Selbstentfaltung des Menschen im Prozess der Geschichte aufgehoben werden." (ebd.) [119]

In der andern messianischen Erlösungsvorstellung kann sich der Mensch mit eigenen Kräften nie von der Verderbnis erlösen, die durch den Ungehorsam von Adam und Eva heraufbeschworen wurde. Der Mensch ist auf einen Gnadenakt Gottes angewiesen. Dieses Konzept liegt der christlichen Auffassung zugrunde, nach welcher Gott selbst Mensch wurde und in der Person Jesu den Opfertod zur Erlösung der Menschheit von der Erbsünde auf sich nahm. Nach dieser Tradition bildet das Ende der Geschichte die Wiederkunft Christi, verstanden als ein übernatürliches, nicht-historisches Ereignis.

"Diese Tradition lebte in jenen Teilen der westlichen Welt weiter, in denen die katholische Kirche die Oberhand behielt. lm übrigen Europa und in Amerika verlor die theologische Denkweise im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert jedoch mehr und mehr ihre Lebendigkeit. Kennzeichnend für das Zeitalter der Aufklärung war der Kampf gegen die Kirche und den Klerikalismus. Im Verlauf der weiteren Entwicklung kamen immer neue Zweifel auf, schliesslich kam es zu einer völligen Ablehnung aller religiösen Vorstellungen. Aber diese Negation der Religion war nur eine neue Form des Denkens, in der der alte religiöse Enthusiasmus besonders in Bezug auf den Sinn und das Ziel der Geschichte zum Ausdruck kam. lm Namen der Vernunft und des Glücks, der menschlichen Würde und Freiheit fand die messianische Idee einen neuen Ausdruck." (ebd.: 165f.) [120]

 

4) Entwicklung zum modernen Kapitalismus und Kritik an diesem

Die gesellschaftliche Entwicklung von der Antike zur Moderne sieht Fromm wesentlich geprägt durch die Entwicklung der Produktivkräfte, durch den zunehmenden Handel, die Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz sowie die Entfaltung von Naturwissenschaft und Technik. Das traditionelle Weltbild und die Macht der Kirche werden nun radikal in Frage gestellt werden.

"Der westliche Mensch entdeckte die Natur als ein Objekt intellektueller Spekulation und ästhetischen Genusses; er schuf eine neue Naturwissenschaft, die innerhalb weniger Jahrhunderte zur Grundlage für eine Technik wurde, welche die Natur und das praktische Leben des Menschen auf eine Weise umformen sollte, wie er sich dies bis dahin nicht hätte träumen lassen. Er entdeckte sich als ein Individuum, das mit fast unbegrenzten Energien und Kräften ausgestattet war." (1961a, GA V: 51f.)

Der wirtschaftliche Aufschwung in der Zeit der Renaissance und der Reformation, die erste industrielle Revolution, weckte neue Hoffnungen, "dass der Mensch bereits auf dieser Erde vollkommen sein und eine 'gute Gesellschaft' errichten könnte" (ebd.: 52), nachdem die Epoche "von den transhistorischen Idealen der Erlösung und den vom christlichen Denken propagierten Vorstellungen von der wesensmässigen Verderbteit des Menschen überschattet" war. Ganz verloren ging diese Hoffnung aber nie. Sie fand erneuten Ausdruck bei den Utopisten des 16. und 17. Jahrhunderts sowie bei den philosophischen und politischen Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts.

Mit der aufkommenden kapitalistischen Produktion gingen tiefgreifende wirtschaftliche und politische Verändefrungen einher. Neue Produktivkräfte und technische Erfindungen führten zu einer gewaltigen Steigerung der Produktivität.

Trotz grosser Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise hält Fromm es für legitim, aufgrund der gemeinsamen Merkmale den Begriff "Kapitalismus" auf das Wirtschaftssystem vom 17. bis zum 20. Jahrhundert anzuwenden.

"Kurz gesagt handelt es sich um folgende Merkmale: 1. um die Existenz von politisch und rechtlich freien Menschen, 2. um die Tatsache, dass freie Menschen (Arbeiter und Angestellte) ihre Arbeitskraft dem Besitzer von Kapital auf dem Arbeitsmarkt durch einen Vertrag verkaufen, 3. um das Bestehen des Gebrauchsgütermarktes, also einem Mechanismus, durch den die Preise bestimmt werden und der Austausch des Sozialprodukts reguliert wird, 4. um das Prinzip, dass jeder Einzelne den eigenen Profit im Auge hat und dass trotzdem durch den Wettbewerb aller angeblich der grösstmögliche Vorteil für alle erzielt wird." (1955a, GA IV: 63)

ln der frühen Epoche des Kapitalismus (17. und 18. Jahrhundert) steckten Technik und Industrie noch in den Anfängen. Die Gewohnheiten und Vorstellungen der mittelalterlichen Kultur hatten noch starken Einfluss auf die wirtschaftlichen Praktiken jener Zeit.

"lm neunzehnten Jahrhundert ändert sich die traditionalistische Einstellung des achtzehnten Jahrhunderts zunächst langsam, dann aber rasch. Der lebendige Mensch mit seinen Wünschen und Kümmernissen verliert mehr und mehr seine zentrale Stellung im System, und Gesellschaft und Produktion nehmen nun seinen Platz ein. Im ökonomischen Bereich hört der Mensch auf, das Mass aller Dinge zu sein. Das am meisten charakteristische Merkmal des Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts ist die skrupellose Ausbeutung des Arbeiters.

   (...) Zwischen dem Kapitaleigner und seinen Arbeitern gibt es kaum ein Gefühl menschlicher Solidarität. Auf wirtschaftlichem Gebiet herrscht das Gesetzt des Dschungels." (ebd.: 64)

Der Markt wird von allen herkömmlichen Beschränkungen befreit, seien es wirtschaftliche, juristische oder moralische, und während "jedermann im eigenen Interesse zu handeln glaubt, wird er in Wirklichkeit von den anonymen Gesetzen des Marktes und der Wirtschaftsmaschinerie in seinem Handeln bestimmt". (ebd.: 64) Wettbewerb und Profit sind die leitenden Prinzipien dieser Gesellschaftsordnung, deren Menschenbild vom Gedanken des homo homini lupus (Hume) bestimmt ist und die entsprechenden Charakterzüge begünstigt.

"Die Menschen wurden von dem Wunsch getrieben, ihren Konkurrenten zu übertreffen, was eine völlige Umkehr der für die Feudalzeit kennzeichnenden Einstellung bedeutete, wo jeder seinen traditionellen Platz in der Gesellschaftsordnung gehabt hatte und sich damit zufriedengeben musste. lm Gegensatz zur gesellschaftlichen Stabilität des mittelalterlichen Systems entwickelte sich eine bis dahin unerhörte gesellschaftliche Mobilität, in der alle um die besten Plätze kämpften, obwohl nur einige wenige Auserwählte sie errangen. In diesem allgemeinen Gerangel um Erfolg brachen die gesellschaftlichen und moralischen Regeln der menschlichen Solidarität zusammen. Das einzig Wichtige im Leben war, in diesem Wettlauf der Erste zu sein." (ebd.: 66)

Als weiteres Kennzeichen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert gilt für Fromm, dass es sich um einen wirklich privaten Kapitalismus handelte, verbunden mit persönlicher Initiative, Risikobereitschaft, Lust am Wettbewerb und Freude am Besitz – Eigenschaften, die Freud als Bestandteile des "analen Charakters" beschrieben hat. Der Sozialcharakter ist, positiv ausgedrückt, geprägt von Eigenschaften wie "praktisch, sparsam, sorgsam, reserviert, vorsichtig, verlässlich, gelassen, ordentlich, überlegt und loyal" (ebd.: 66), während auf der negativen Seite Merkmale wie "phantasielos, geizig, argwöhnisch, kalt, ängstlich, eigensinnig, träge, pedantisch, zwanghaft und besitzgierig" (ebd.) zu nennen sind.

Obwohl die Ausbeutungsformen des vergangenen Jahrhunderts heute weitgehend verschwunden sind, gilt immer noch das gleiche Grundprinzip, "das man in allen Klassengesellschaften findet: die Benutzung des Menschen durch den Menschen". (ebd.: 69) [121] Es ist in Fromms Augen "Ausdruck des Wertsystems, das dem kapitalistischen System zugrunde liegt" (ebd.: 70), wie es schon Marx analysiert habe:

"Das Kapital, die tote Vergangenheit, stellt die Arbeitskraft – die lebendige Vitalität und Kraft der Gegenwart – für seine Zwecke an. In der kapitalistischen Hierarchie der Werte steht das Kapital höher als die Arbeitskraft; angehäufte Dinge stehen höher als die Manifestationen des Lebens. Das Kapital bedient sich der Arbeitskraft, und nicht die Arbeitskraft des Kapitals. Wer Kapital besitzt, befiehlt dem, der 'nur' sein eigenes Leben, seine menschliche Geschicklichkeit, seine Vitalität und seine kreative Produktivität besitzt. Die 'Dinge' werden höher bewertet als der Mensch. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeitskraft bedeutet viel mehr als der Konflikt zwischen zwei Klassen, viel mehr als deren Kampf um einen grösseren Anteil am Sozialprodukt. Es handelt sich um den Konflikt zwischen zwei Wertprinzipien: zwischen der Welt der Dinge und ihrer Anhäufung und der Welt des Lebens und seiner Produktivität." (ebd.)

Das 20. Jahrhundert bringt nochmals entscheidende Änderungen mit sich, sowohl bezüglich der Industrietechnik und der Wirtschaftsformen wie auch der Gesellschaftsstruktur. Zu berücksichtigen sind nach Fromm auch die Unterschiede zwischen Europa und den USA im Tempo der kapitalistischen Entwicklung.

"Das feudale Europa hat jedoch neben seinen unverkennbaren negativen Eigenschaften auch viele humane Züge, die äusserst anziehend sind, wenn man sie mit der durch den reinen Kapitalismus erzeugten Einstellung vergleicht. Die Kritik Europas an den Vereinigten Staaten bezieht sich im Wesentlichen auf die älteren humanen Werte des Feudalismus, soweit diese in Europa noch lebendig sind. Es ist eine Kritik an der Gegenwart im Namen einer Vergangenheit, die auch in Europa selbst schnell im Verschwinden begriffen ist." (ebd.: 76; meine Hervorh.)

lm ehemaligen Zarenreich hat sich eine Supermacht etabliert, die usurpatorisch den Anspruch auf die historische Verwirklichung des Sozialismus in der Nachfolge von Marx und Engels erhebt, während es sich nach Fromm um eine Form von Staatskapitalismus handelt, die von einer mit Privilegien bestückten Bürokratie mit den Methoden des Managements geführt wird, ohne die humanistischen Ziele der sozialistischen Arbeiterbewegung aufzunehmen. Dadurch wird die Entfremdung in den krudesten Formen fortgeschrieben. [122]

Die destruktiven Möglichkeiten des Menschen haben sich ins Unvorstellbare gesteigert, und seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Möglichkeit der totalen Selbstvernichtung der menschlichen Gattung und der von ihr geschaffenen Zivilisation stets gegenwärtig, wenn auch in der Regel intensiv verdrängt.

Die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ist durch das fast völlige Ersetzen der Handarbeit durch den Einsatz der Maschinen und in der neueren Entwicklung durch die Verdrängung der menschlichen Intelligenz durch jene des Computers gekennzeichnet. Die Konzentration des Kapitals hat – wie von Marx prognostiziert – zugenommen, und die Zahl der selbständigen Unternehmen ist in beträchtlichem Masse zurückgegangen. Das Management ist zunehmend von den Eigentümern der Unternehmungen getrennt worden. Die Wichtigkeit des Binnenmarktes hat zugenommen, und der gesamte Wirtschaftsapparat beruht auf der Massenproduktion.

"Das Bedürfnis nach noch mehr Konsum wird von der Werbung und all den anderen Methoden, die einen psychologischen Druck auf uns ausüben, noch stark stimuliert. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg der Arbeiterklasse. Besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa, hat die Arbeiterschaft Anteil an der vergrösserten Produktion des gesamten Wirtschaftssystems. Der Arbeitslohn und die zusätzlichen Sozialleistungen, die dem Arbeiter zugutekommen, ermöglichen ihm ein Konsumniveau, das noch vor hundert Jahren einfach unglaublich erschienen wäre." (ebd.: 79)

Selbst offene irrationale Autoritäten sind weitgehend verschwunden: Es herrscht die anonyme und unsichtbare Autorität des Marktes, der Konformität und des Konsums. [123]

Aus sozialpsychologischer Sicht lässt sich der Durchschnittsmensch im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts der Marketing-Orientierung zuordnen.

Als historische Lösungsversuche zur Überwindung der grossen Probleme des Kapitalismus sieht Fromm:

a) den Totalitarismus in den Formen von Faschismus, Nazismus und Stalinismus (hier werden alle menschlichen Kräfte auf die Figur des Führers, des Staates und des "Vaterlands" projiziert);

b) den Superkapitalismus (in einer Übersteigerung des Prinzips von Wettbewerb und Selbstsucht, wie es etwa die im Council of Profit Sharing Industries zusammengeschlossene Gruppe vertritt (vgl. ebd.: 169); und

c) den Sozialismus, dessen humanistische Ausrichtung Fromm in Wort und Tat vertreten will. [124]

"Wenn Wirtschaft und Politik der menschlichen Entwicklung untergeordnet werden sollen, dann muss das Modell der neuen Gesellschaft auf die Erfordernisse des nicht entfremdeten, am Sein orientierten Individuums ausgerichtet werden." (1967a, GA II: 395)

Anstelle des am Haben orientierten Turms von Babel ist die auf den Vollzug des Lebens konzentrierte Stadt des Seins zu errichten, als Synthese zwischen der Stadt Gottes (These) und der lrdischen Stadt (Antithese), bevor wir Menschen von den Trümmern unserer Zivilisation erschlagen und begraben werden. (vgl. ebd.: 414) [125]

 

5) Der Gedanke der Einheit: Überwindung der "historischen Entfremdung" im Sozialistischen Humanismus

Fromms ganzes Denken ist ausgerichtet auf die Konzeption einer künftigen Gesellschaft, in der die historischen Formen der Entfremdung überwunden und den menschlichen Grundbedürfnissen in optimaler Weise entsprochen wird, so dass die menschlichen Kräfte der "Liebe", der "Vernunft" und des "Glaubens" zur Verwirklichung gelangen können. [126]

"Der Glaube an andere erreicht seine höchste Stufe im Glauben an die Menschheit. In der westlichen Welt sprach sich dieser Glaube in den religiösen Begriffen der jüdisch-christlichen Religion aus, in säkularer Sprache fand er seinen stärksten Ausdruck in den fortschrittlichen politischen und sozialen Ideen der letzten einhundertfünfzig Jahre. Ähnlich wie der Glaube an das Kind basiert auch dieser Glaube auf der Idee, die menschlichen Möglichkeiten seien derart, dass sie unter geeigneten Wachstumsbedingungen eine gesellschaftliche Ordnung herbeiführen können, die von den Prinzipien Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe bestimmt werden." (1947a, GA II: 131) [127]

Die sozialistische Bewegung ist für Fromm zur Sachwalterin für den messianischen Gedanken geworden, für die Vorstellung der Umwandlung der Gesellschaft in eine solche, die von den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Wahrheit beherrscht wird. [128]

"Tatsächlich war es so, dass in den letzten zweihundert Jahren der religiöse Enthusiasmus gerade in jenen Bewegungen zu finden war, die sich von der traditionellen Religion losgesagt hatten. Als Organisation und Bekenntnis lebte die Religion in den Kirchen weiter; im Sinne religiöser Glut und lebendigen Glaubens wurde sie weitgehend bei den Religionsgegnern praktiziert und weitergetragen." (1955a, GA IV: 164)

Der innerweltliche eschatologische Glaube ist von ihnen weitergetragen worden, während die Kirche ihn aus den Augen verloren und ins Jenseits projiziert hat. [129] Aus dieser Perspektive versteht Fromm selbst Marx als "religiösen Denker":

"Das Ziel der Entwicklung des Menschen ist für Marx eine neue Harmonie zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur, eine Entwicklung, bei der die Bezogenheit des Menschen auf seinen Mitmenschen seinem wichtigsten menschlichen Bedürfnis entspricht." (ebd.: 178) [130]

In der ökonomischen Umwandlung der Gesellschaft erkannte Marx "den entscheidenden Weg zur Befreiung und Emanzipation der Menschen, zu einer 'wahren Demokratie'". (ebd.: 179)

Dennoch sieht Fromm Marx befangen in einer Reihe schwerwiegender Irrtümer, die in Lenins Verständnis des Marxismus noch verschärft erscheinen:

"Zusammenfassend kann man sagen, dass die letzten Ziele des marxistischen Sozialismus im Wesentlichen die gleichen waren wie die anderer sozialistischer Richtungen: den Menschen von der Beherrschung und Ausbeutung durch den Menschen und vom Übergewicht des ökonomischen Bereichs zu befreien und ihn wieder zum höchsten Ziel des Lebens zu machen durch die Schaffung einer neuen Einheit zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur. Die Irrtümer von Marx und Engels, ihre Überschätzung der politischen und juristischen Faktoren, ihr naiver Optimismus, ihre zentralistische Orientierung, all das war darauf zurückzuführen, dass sie sowohl psychologisch wie auch intellektuell viel stärker als Männer wie Fourier, Owen, Proudhon und Kropotkin noch in der bürgerlichen Tradition des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts verwurzelt waren." (ebd.: 186) [131]

"Sozialismus" wird für Fromm zur Chiffre für jenes gesellschaftliche System, in welchem die messianische Zeit in der historischen Anstrengung des Menschen auf dem Weg zu seiner Selbstverwirklichung fortgeschritten ist, den Idealen des Humanismus folgend. "Von denen die grössten Errungenschaften der westlichen und östlichen Kultur inspiriert wurden". (1960b, GA V: 40)

"Der Sozialismus ist nicht nur ein sozioökonomisches und politisches Programm; er ist ein humanes Programm, dem es um die Verwirklichung der Ideale des Humanismus unter den Bedingungen einer lndustriegesellschaft geht. Sozialismus muss radikal sein. Radikalsein heisst an die Wurzel gehen; und die Wurzel ist der Mensch. Heute sitzen die Dinge im Sattel und reiten den Menschen. Der Sozialismus möchte den Menschen, den ganzen, schöpferischen, wirklichen Menschen wieder in den Sattel heben." (ebd.: 41) [132]

Die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist so kurz, dass es nach Fromm im Grunde genommen nicht beunruhigen müsste, wenn die seelische Reife sich noch nicht eingestellt hat – "hätte nicht die Diskrepanz zwischen der emotionalen und der intellektuell-technischen Entwicklung inzwischen derartige Ausmasse angenommen, dass uns Vernichtung oder eine neue Barbarei droht" (1961a, GA V: 64).

"Diesmal wird uns nur eine fundamentale und authentische Wandlung retten.

   Dennoch wissen wir wenig darüber, wie diese Wandlung zu bewerkstelligen ist – und die Zeit drängt so sehr. Wir müssen durch das Netz von Rationalisierungen, Selbsttäuschungen und Doppeldenken hindurchdringen. Wir müssen objektiv sein und die Welt und uns realistisch und unentstellt durch Narzissmus und Xenophobien sehen. Freiheit existiert nur dort, wo Vernunft und Wahrheit herrschen. Archaische Stammesgefühle und Götzenverehrung gedeihen dort, wo die Stimme der Vernunft schweigt." (ebd.: 64f.) [133]

Erforderlich sei eine Atempause, "in der die Menschheit zur Besinnung kommen kann, in der die humanistischen Kräfte wirken können, in der vor den Gefahren gewarnt werden kann, und neue Visionen aufgezeigt werden können". (1970h, GA V: 256f.) [134]

Fromm fordert eine neue Haltung, "eine Kombination von zynischem Realismus und Glauben, ein Vermeiden aller Sentimentalitäten, aller lrrationalität, verbunden mit dem Glauben an die realen Möglichkeiten" (ebd.), eine konfliktfreie und den menschlichen Bedürfnissen entsprechende sozialistische Zukunftsgesellschaft:

"Der Aufbau einer solchen Gesellschaft stellt den nächsten Schritt dar; er bedeutet das Ende der 'menschenähnlichen' Geschichte, in der der Mensch noch nicht völlig menschlich geworden ist. Er bedeutet nicht das 'Ende der Tage', die 'Vollendung', den Zustand vollkommener Harmonie, in der es keine Konflikte und Probleme mehr gibt. Es ist im Gegenteil gerade das Schicksal des Menschen, dass sein Dasein erfüllt ist von Widersprüchen und dass er sich mit ihnen auseinandersetzen muss, ohne sie jemals lösen zu können." (1955c, GA V: 272) [135]

Trotz dieser Skepsis bleibt die von den Propheten verheissene messianische Zeit Leitbild für Fromms Vision einer lebenswerten Zukunft, eine Zeit, da die Harmonie zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur, Mann und Frau auf einer höheren Ebene wiederhergestellt ist. In ihr hat der Mensch seine ihm innewohnenden Kräfte voll entfaltet, er ist zu "Liebe" und "Vernunft" fähig, er kennt die "Wahrheit" und übt sich in "Gerechtigkeit", und er hat sich von den Fesseln der "irrationalen Leidenschaften" befreit.

"Die Darstellungen der Propheten sind reich an Symbolen von Vorstellungen der neuen Harmonie. Die Erde wird wieder fruchtbar, Schwerter werden in Pflugscharen verwandelt, der Löwe und das Lamm werden friedlich miteinander leben, die ganze Menschheit wird in Wahrheit und Liebe vereint sein." (1960d, GA Vl: 72) [136]

Doch diese prophetische Vision ist keinesfalls deterministisch zu verstehen. Die Propheten machten keine Voraussagen, sie nahmen nicht im Geiste die Zukunft vorweg, sondern entwickelten Vorstellungen im Sinne von Alternativen. Sie sind als Warner zu sehen, die gegen die selbstzerstörerischen Tendenzen in der Gesellschaft protestierten:

"Sie zeigen nicht nur auf die Alternativen – sie warnen aktiv vor der Möglichkeit, die zum Untergang führt. Sie protestieren gegen sie. Aber nachdem sie verkündet und nachdem sie protestiert haben, lassen sie die Menschen handeln. [137] Auch Gott mischt sich nicht ein und tut keine Wunder. Die Verantwortung bleibt beim Menschen, der seine Geschichte selbst machen muss. Geholfen wird von dem Propheten nur in dem einen Sinn, dass er versucht, ihnen Alternativen klarzumachen und sie darauf aufmerksam zu machen auf die Entscheidungen, die zum Unglück führen. Dieses Problem besteht jetzt wie damals. Auch wir stehen vor der Alternative einer vermenschlichten Gesellschaft oder der Barbarei, einer totalen, bestenfalls halb totalen Zerstörung oder einer konsequenten nuklearen Abrüstung." (1975d, GA VI: 78) [138]

Die prophetischen Schriften sind für Fromm von höchster Aktualität. Die Bibel betrachtet er allerdings nicht als "Wort Gottes", sondern als ein "aussergewöhnliches Buch, in dem viele Normen und Prinzipien zum Ausdruck kommen, die über Jahrtausende hinweg ihre Gültigkeit bewahrt haben" (1966a, GA VI: 87), ein Buch, das dem radikalen Humanismus verpflichtet ist und in dem den Menschen Visionen angeboten werden, die in Fromms Augen heute noch Gültigkeit haben und immer noch nicht verwirklicht sind.

Zu diesen Visionen gehört auch der Gedanke des Sabbats (Fromm hatte bereits 1927 seinen ersten Aufsatz Der Sabbat diesem Thema gewidmet):

Der Sabbat symbolisiert einen Zustand der Einheit zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch, indem man nicht arbeitet – das heisst indem man an dem Prozess von Veränderungen in der Natur und in der Gesellschaft nicht teilnimmt – ist man frei von den Fesseln der Zeit, wenn auch nur an einem Tag in der Woche. Die volle Bedeutung dieser Idee kann man nur im Kontext der biblischen Philosophie von der Beziehung zwischen Mensch und Natur und im Zusammenhang mit dem Begriff der messianischen Zeit verstehen. Der Sabbat ist die Vorwegnahme der messianischen Zeit, welche manchmal auch als 'die Zeit des ewigen Sabbats' bezeichnet wird; aber er ist nicht nur die symbolische Vorwegnahme der messianischen Zeit – er ist auch ihr realer Vorläufer." (1966a, GA VI: 201) [139]

Der Sabbat ist kein magisches Ritual, sondern ein "praktisches Verhalten, das den Menschen in eine reale Situation der Harmonie und des Friedens versetzt". (ebd.: 202) Der Bezug zwischen dem paradiesischen Urzustand und der messianischen Zukunftsgesellschaft des Friedens ist offenkundig:

"Zwischen dem Paradies und der messianischen Zeit besteht eine dialektische Beziehung. Das Paradies ist das Goldene Zeitalter der Vergangenheit, so wie es auch in vielen Legenden anderer Kulturen aufgefasst wird. Die messianische Zeit ist das Goldene Zeitalter der Zukunft. Die beiden Zeitalter sind einander insofern gleich, als sie einen Zustand der Harmonie bedeuten, als der erste Zustand der Harmonie nur dadurch existierte, dass der Mensch noch nicht geboren war, während der neue Zustand der Harmonie dadurch zustande kommt, dass der Mensch nun voll geboren wird. [140] Die messianische Zeit die Rückkehr zur Unschuld, und sie ist doch auch wieder keine Rückkehr, weil sie das Ziel ist, dem der Mensch nach dem Verlust seine Unschuld zustrebt." (ebd. 158) [141]