Kapitel 2: Erich Fromms Entfremdungskonzept

a) Fromms Einführung des Entfremdungsgedankens

 

Überraschenderweise tritt der Begriff der Entfremdung erst in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) in einem systematischen Konzept auf. Dort wird er in zwei Kapiteln in breiter Form von Fromm eingeführt. [33]

 

In allen zuvor erschienenen Schriften – immerhin sind es 27 Aufsätze und 5 Monografien (Die Entwicklung des Christusdogmas, 1930a; Die Furcht vor der Freiheit, 1941a; Psychoanalyse und Ethik, 1947a; Psychoanalyse und Religion, 1950a; Märchen, Mythen und Träume, 1951a) – gebraucht Fromm den Terminus "Entfremdung", wenn überhaupt, beiläufig und ohne konzeptuellen Zusammenhang. Eine Ausnahme bildet die folgende Passage aus dem Aufsatz "Zum Gefühl der Ohnmacht", wo Fromms Entfremdungsidee schon deutlich vorgebildet ist. Hier kommt auch die starke Anknüpfung an die von Marx entwickelten Gedanken zum Thema "Entfremdung" zum Ausdruck.

 

"Der bürgerliche Mensch hat mehr als der Mensch irgendeiner früheren Geschichtsepoche den Versuch gemacht, das Leben in der Richtung des grössten Glücks für die grösste Zahl der Menschen zu verändern und den Einzelnen aktiv an dieser Veränderung zu beteiligen. Er hat gleichzeitig die Natur in einem bisher nie gekannten Mass bezwungen.

   (...) Er produziert eine Welt der grossartigsten und wunderbarsten Dinge: aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber; sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener. Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht. Dieselbe Haltung der Ohnmacht hat er auch Gegenüber dem sozialen und politischen Apparat." (1937a, GA I: 189)

 

 

1) "Entfremdung" in "Wege aus einer kranken Gesellschaft" (1955a)

 

In diesem Werk erhält Entfremdung bei Fromm mit einem Mal zentrale Bedeutung. Man könnte meinen, Fromm habe hier nun den gesuchten Begriff für ein längst vorhandenes Konzept gefunden: [34]

 

"Unter Entfremdung ist eine Art der Erfahrung zu verstehen, bei welcher der Betreffende sich selbst als einen Fremden erlebt. Er ist sozusagen sich selbst entfremdet. Er erfährt sich nicht als Mittelpunkt seiner Welt, als Urheber seiner Taten – sondern seine Taten und deren Folgen sind zu seinen Herren geworden, denen er gehorcht, ja die er möglicherweise anbetet. Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat. Er erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge erlebt – mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Aussenwelt in eine produktive Beziehung zu treten." (1955a, GA IV: 88)

 

Ausgehend vom Gedanken der Selbstentfremdung bezieht Fromm so die Verdinglichung des Erlebens, die Fetischierung eigener Handlungen und deren Ergebnisse, die Fremdheit im sozialen Interaktionsfeld und die Passivität menschlicher Subjektivität von Beginn an in seinen Entfremdungsgedanken ein.

 

Nachdem Fromm auf die etymologische Bedeutung des Entfremdetseins im Englischen, Französischen und Spanischen hingewiesen hat, wo auch der Entfremdungsaspekt der Geistesstörung mitschwingt, beruft er sich auf die für ihn bedeutsamsten Vordenker des Entfremdungsbegriffes.

 

"Im letzten Jahrhundert haben Hegel und Marx das Wort 'Entfremdung' nicht auf den Zustand eines Geisteskranken, sondern auf eine weniger drastische Form der Selbstentfremdung angewandt. Auch wenn der Betreffende in Bezug auf praktische Dinge noch vernünftig handeln kann, so stellt sie doch einen der schwersten gesellschaftlichen Defekte dar. Im Marxschen System wird jener Zustand als Entfremdung bezeichnet, in dem 'die eigene Tat des Menschen ihn zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht.' " (ebd.; meine Hervorh. [35]

 

Als Gedanke existiere die "Entfremdung" allerdings schon viel länger, meint Fromm, und gibt diesem Begriff nun die für ihn typische Wendung, wodurch die im philosophiegeschichtlichen Kapitel aufgezeigte Bedeutungsfülle noch erweitert wird:

 

"Er bedeutet das Gleiche wie das, was die Propheten des Alten Testaments unter Götzendienst (idolatry) verstanden." (ebd.) [36]

 

Hier sind wir bereits auf die Wurzel und tiefste Quelle des Frommschen Entfremdungskonzepts gestossen. Denn Hegel und Marx haben – so Fromm – nur eine moderne Ausdrucksweise gefunden für einen Gedanken, der schon im Alten Testament von zentraler Wichtigkeit ist:

 

"Die Propheten des Monotheismus haben die heidnischen Religionen nicht in erster Linie deshalb als Götzendienst angeprangert, weil sie mehrere Götter statt des einen Gottes verehrten. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Monotheismus und dem Polytheismus liegt nicht in der Anzahl der Götter, sondern in der Tatsache der Selbstentfremdung. Der Mensch verwendet seine Energie, seine künstlerischen Fähigkeiten darauf, ein Götzenbild herzustellen, das er dann anbetet und das doch nichts weiter ist als ein Gebilde seiner eigenen Hände. Seine Lebenskräfte sind in ein 'Ding' eingeströmt, und dieses zum Götzen gewordene Ding wird nicht als Ergebnis des eigenen produktiven Bemühens, sondern als etwas ausserhalb seiner selbst erlebt, das über dem Menschen steht, ja ihm feindlich gesinnt ist und dem er sich unterwirft." (ebd.: 88f.: meine Hervorh.). [37]

 

Der biblische Götzendienst wird von Fromm sozusagen aus der Sicht moderner, psychoanalytisch orientierter Sozialpsychologie reinterpretiert, wobei der Marxsche Gedanke der Unterwerfung des Menschen unter seine Produkte erkenntnisleitend wird. "Götze" nimmt hier ganz offensichtlich den Platz ein, den Marx dem "Kapital" zuweist.

 

"Der Götzen dienende Mensch beugt sich vor dem Werk seiner Hände. Der Götze repräsentiert seine eigenen Lebenskräfte in einer entfremdeten Form." (ebd.: 89) [38]

 

Das Prinzip des Monotheismus ist gegenüber der Vielgötterei als Fortschritt zu sehen, weil in der Betonung der Unendlichkeit des Menschen (in der Ebenbildlichkeit Gottes) die Gefahr vermieden wird, dass er eine einzelne Eigenschaft als Ganzheit hypostasiert. Der Monotheismus ermöglicht es, den Menschen als Träger unendlicher Eigenschaften zu verstehen. [39] Im Götzendienst hingegen beugt er sich vor der Projektion einer Teileigenschaft und unterwirft sich dieser.

 

"Er erlebt sich nicht als Zentrum, von dem lebendige Akte der Liebe und Vernunft ausstrahlen. Er wird zu einem Ding, genauso wie seine Götter Dinge sind." (ebd.) [40]

 

Aus dieser Sichtweise kritisiert Fromm denn auch die heutigen monotheistischen Religionen, die nach seinem Dafürhalten weitgehend zu diesem "Götzendienst" zurückgekehrt sind. Der einem solchen religiösen Verständnis verpflichtete Mensch projiziert seine eigenen Kräfte der Vernunft und der Liebe auf Gott, um dann wieder einen Teil davon für sich zurückzuerbitten (besonders klar nachweisbar in den stark autoritären Formen des historischen Christentums, zum Beispiel im Calvinismus). [41]

 

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Fromm auch den von Rousseau entwickelten Aspekt der Entfremdung anspricht, wenn auch in etwas eigenwilligem Verständnis (vgl. das Originalzitat im Abschnitt "Jean-Jacques Rousseau" auf Seite 26 dieser Arbeit):

 

"In Rousseaus Staatstheorie wird genau wie im modernen totalitären Staat vom Einzelnen erwartet, dass er auf die eigenen Rechte verzichtet und sie dem Staat als dem einzigen Schiedsrichter überträgt. Beim Faschismus und im Stalinismus verrichtet der sich völlig entfremdete Einzelne seine Andacht vor dem Altar seines Idols, und es macht kaum einen Unterschied, welchen Namen dieses ldol trägt: ob Staat, Klasse, Kollektiv oder welchen sonst." (ebd.: 90: meine Hervorh.) [42]

 

Fromm sieht auch den Neurotiker als einen "Götzendiener", dessen Handlungen nicht wirklich die eigenen seien:

 

"Er hat zwar die Illusion, das zu tun, was er will, wird aber in Wirklichkeit von Kräften getrieben, die sich von ihm selbst losgetrennt haben und hinter seinem Rücken wirken. Er ist auch sich selbst ein Fremder, genauso wie auch sein Nächster ihm fremd ist. Er erlebt den anderen und sich selbst nicht so, wie sie und er wirklich sind, sondern entstellt durch die unbewussten Kräfte, die in ihm arbeiten. Der Geisteskranke ist der völlig entfremdete Mensch; er hat sich als Mittelpunkt seines Erlebens völlig verloren." (ebd.)

 

Diesen Gedanken zusammenfassend, meint Fromm, dass sich der Mensch in der Entfremdung "nicht als aktiven Träger seiner eigenen Kräfte und seines eigenen Reichtums" erfährt, "sondern als ein verarmtes 'Ding', das von Kräften ausserhalb seiner selbst abhängig ist, in die er seine lebendige Substanz hineinprojiziert hat'." (ebd.).

 

Entfremdung ist bei Fromm also keineswegs eine Erscheinung der modernen Gesellschaft, wenn sie in ihr auch ihren Höhepunkt gefunden hat, ja fast vollständig geworden ist und sich wesentlich in den menschlichen Arbeitsverhältnissen ausdrückt. [43] Denn die Arbeitnehmer sind in der industriellen Gesellschaft in Fromms Verständnis ökonomisch atomisiert worden. Ihre Tätigkeit wird immer eintöniger und gedankenloser, während die Impulse des schöpferisches Schaffens, der Neugier und des unabhängigen Denkens und Handelns in monotonen Arbeitsgängen erstickt wird. Arbeiter sind hierbei genauso betroffen wie Manager, denn die Grösse der heutigen Unternehmen und die extreme Arbeitsteilung verhindern die organische und spontane Zusammenarbeit zwischen den Individuen. Die Einzigen, die den Betrieb zu übersehen vermögen, sind die Manager-Bürokraten, denen eine fast göttliche Verehrung zuteil wird, die aber trotz ihrer Privilegiertheit ebenso radikal von Entfremdung betroffen sind:

 

"Das Problem des Managers führt uns zu einer der bedeutsamsten Erscheinungen in einer entfremdeten Kultur, zur Bürokratisierung. Sowohl die Grossunternehmen als auch der staatliche Verwaltungsapparat werden von einer Bürokratie in Gang gehalten. Bürokraten sind Spezialisten in Bezug auf die Verwaltung von Dingen und von Menschen. Infolge der Grösse des zu verwaltenden Apparats und der daraus resultierenden Abstraktion steht der Bürokrat zu den Menschen in einer Beziehung totaler Entfremdung. Die zu verwaltenden Menschen sind Objekte, denen die Bürokraten weder mit Liebe noch mit Hass, sondern völlig unpersönlich gegenüberstehen." (ebd.: 91f.)

 

Diese Betrachtungsweise gibt Fromm die Möglichkeit, herbe Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen sowohl in den sogenannten sozialistischen Ländern wie auch in denen des Hochkapitalismus zu üben. Der Geist der Bürokratie ist jedoch nicht nur in die Verwaltung von Wirtschaftsbetrieben und Regierungen eingedrungen, sondern "ebenso in die Gewerkschaften und in die grossen sozialistischen demokratischen Parteien in England, Deutschland und Frankreich" (ebd.: 92). [44]

 

Genauso entfremdet wie der Bereich der Produktion ist jener des Konsums, der wesentlich auf der Geldwirtschaft beruht, wo also Arbeit in abstrakter Form repräsentiert ist, das nicht in direktem Zusammenhang mit eigener Anstrengung stehen muss (wie Erbschaft, Glücksfall, Betrug). Hier geht Fromm wieder zurück auf Marx' Analyse der entfremdeten und entfremdenden Funktion des Geldes im Prozess seines Erwerbs und Verbrauchs, indem es "die wirklichen menschlichen und natürlichen Wesenskräfte in bloss abstrakte und darum Unvollkommenheiten, qualvolle Hirngespinste" (Marx, zit. ebd.) verwandelt.

 

Neben dem Erwerb ist auch der Gebrauch der Dinge mit Entfremdung verbunden; diese werden oft nur zu ihrem Besitz erworben, wofür ein ganzer Industriezweig, die Werbung, besorgt ist. Während der Akt des Konsums nach Fromm einen konkreten, humanen Akt darstellen sollte, "an dem unsere Sinne, unsere körperlichen Bedürfnisse, unser ästhetischer Geschmack beteiligt sind – das heisst, wobei wir konkrete, empfindende, fühlende und selbständig urteilende Menschen sind" (ebd.: 96f.), begnügen wir uns mit künstlich stimulierten Fantasiebefriedigungen, an denen unser "wirkliches Selbst" keinen Anteil habe. Der Konsumismus als das Verhalten, bei dem sich das Beschaffen von Gebrauchsgütern zum Selbstzweck entwickelt, wird zum zwanghaften und irrationalen Ziel, dem alles andere untergeordnet wird, ganz dem Marxschen Gedanken entsprechend, dass unter kapitalistischen Lebensbedingungen jeder darauf spekuliert, den anderen durch die Schaffung eines neuen Bedürfnisses in Abhängigkeit zu bringen.

 

Die zunehmende Bedeutung einer rezeptiven Charakterorientierung geht in Fromms Sichtweise mit der Entfaltung einer "Marketing-Orientierung" einher, während im 19. Jahrhundert noch eine ausbeuterische, mit Horten verquickte Orientierung vorgeherrscht hat.

 

In den Beziehungen zu andern Menschen erfährt sich der Mensch wesentlich als Ding, das auf dem Markt Erfolg zu erringen und sich gewinnbringend zu verkaufen hat. Er erlebt sich nicht als aktiven Träger menschlicher Kräfte, und seine Identität beruht nicht auf seiner Tätigkeit als liebender oder tätiger Mensch, sondern auf der ihm im sozialen und ökonomischen Zusammenhang zugeteilten Rolle.

 

Das Wesen der Entfremdung lässt sich nach Fromm nur ganz verstehen, wenn man als speziellen Aspekt unseres modernen Lebens "die Routinisierung und die Verdrängung der Grundprobleme menschlicher Existenz aus dem Bewusstsein" (ebd.: 104) berücksichtigt.

 

"Aber der Mensch kann nur zur Erfüllung seiner selbst gelangen, wenn er mit den Grundgegebenheiten seiner Existenz in Berührung bleibt, wenn er noch fähig ist, das Erregende von Liebe und Solidarität wie auch die tragische Tatsache seiner Einsamkeit und des fragmentarischen Charakters seiner Existenz zu erleben." (ebd.)

 

In der modernen Gesellschaft gewinnt das "Leben aus zweiter Hand" immer grössere Bedeutung. Verbrechen und Kriminalgeschichten, Katastrophen und Verkehrsunfälle üben grosse Faszination auf die Menschen aus. Dieses Phänomen zeigt nach Fromm ein tiefes Verlangen nach Dramatisierung der letzten Dinge im Menschenleben, nämlich von Leben und Tod, von Verbrechen und Strafe, vom Kampf von Mensch und Natur" (ebd.), wie es bereits im griechischen Drama auf hohem künstlerischen und metaphysischem Niveau zum Ausdruck gekommen ist, nun aber in roher, brutaler Form und ohne jegliche kathartische Wirkung.

 

Das Tauschprinzip ist zur universalen Beziehungsform bis in den personlichsten Bereich geworden.

 

"Während Adam Smith annahm, dieses Tauschbedürfnis sei der menschlichen Natur eingeboren, handelt es sich dabei in Wirklichkeit um ein Symptom der Abstraktion und Entfremdung, die dem Gesellschaftscharakter des modernen Menschen eigentümlich ist. Der ganze Lebensprozess wird analog der gewinnbringenden Investition von Kapital erlebt, wobei mein Leben und meine Person das investierte Kapital darstellen." (ebd.: 106f.)

 

Die Entfremdung in den hochtechnisierten Gesellschaften beeinträchtigt die seelische Gesundheit des Menschen aufs schwerste, wobei Fromm den Begriff "Gesundheit" kritisch vor dem Hintergrund seines Humanismusverständnisses reflektiert:

 

"Natürlich entsprechen die Begriffe von Gesundheit und Krankheit den Vorstellungen derer, die sie formulieren – also der Kultur, in der diese Menschen leben. Entfremdete Psychiater werden die seelische Gesundheit mit den Begriffen der entfremdeten Persönlichkeit definieren und deshalb das für gesund halten, was vom Standpunkt des normativen Humanismus bereits als krank angesehen würde." (ebd.: 136) [45]

 

Die heutigen psychiatrischen Definitionen erklären diejenigen seelischen Eigenschaften als "gesund", die mit dem entfremdeten Gesellschaftscharakter unserer Zeit übereinstimmen, nämlich Anpassung, Bereitschaft zur Kooperation, Aggressivität, Toleranz, Ehrgeiz usw.

 

Die weitgehende Auflösung primärer Bindungen (Familie, Sippe) wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Damit stellt sich das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit neu, und die Flucht in die Konformität erscheint den meisten Menschen als die einzige Lösung, was aber die Entfremdung noch verstärkt.

 

"Die psychische Aufgabe, der man sich stellen kann und muss, ist nicht, sich sicher zu fühlen, sondern zu lernen, die Unsicherheit ohne Panik und unangebrachte Angst zu ertragen." (ebd.: 139) [46]

 

Entfremdung ist nur dadurch zu vermeiden, dass der Einzelne seine Kräfte der Vernunft und Liebe in produktiver Weise entfaltet, Anpassung an andere und die Angst, von den Mitmenschen nicht anerkannt zu werden, macht den konformistischen Menschen abhängig vom Urteil der Gesellschaft und bewirkt nur noch stärkere Unsicherheit.

 

Spinozas Verständnis von Glück als Zustand intensivster Vitalität aufnehmend, meint Fromm, "dass das Glück nicht in einem Zustand innerer Passivität und in der Einstellung des Konsumenten zu finden ist, die das Leben des entfremdeten Menschen durchdringt. Glücklichsein heisst Fülle erleben und nicht Leere, die gefüllt werden muss." (ebd.: 143) [47]

 

Das Postulat eines "normativen Sozialismus" erfordert für Fromm eine andere Vorstellung von geistig-seelischer Gesundheit. 

 

"Derselbe Mensch, der in den Kategorien einer entfremdeten Welt als gesund gilt, erscheint vom humanistischen Standpunkt aus als der am schwersten Erkrankte – wenn er auch nicht an einer individuellen Krankheit, sondern an einem gesellschaftlich vorgeprägten Defekt leidet. Seelische Gesundheit im humanistischen Sinne ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, zu lieben und schöpferisch tätig zu sein, durch die Loslösung von inzestuösen Bindungen an die Familie und die Natur, durch ein Gefühl der Identität, das sich auf das Erlebnis des Selbst als Subjekt und Urheber der eigenen Kräfte gründet, und durch die Erfassung der Realität im eigenen Ich und ausserhalb seiner selbst, das heisst durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft." (ebd.: 144) [48]

 

Der seelisch gesunde Mensch bewältigt sein Leben aus seinem innersten Vermögen zu Liebe, Vernunft und Glauben, unter Achtung seines eigenen Lebens wie auch jenes seiner Mitmenschen, während ein kranker, der entfremdete Mensch als Ding, als "Investition" erlebt und von andern manipuliert wird. Er hat sein Selbstgefühl weitgehend verloren und eine tiefe Angst vor dem Nichts entwickelt. Diese sieht Fromm als das prägendes Lebensgefühl unseres Zeitalters, verbunden mit Schuldgefühlen und ständigem schlechten Gewissen, das eigene Leben zu vertun und die einmalige Chance zur Selbstverwirklichung zu verwirken.

 

"So fühlt der entfremdete Mensch sich schuldig, weil er er selbst ist und weil er ein Automat ist, weil er eine Person ist und weil er ein Ding ist." (ebd.)

 

Der nicht-entfremdete Mensch erlebt dagegen das Leben und die ihn umgebenden Ding gewissermassen von innen her, subjektiv und durch die persönliche Erfahrung, durch Fühlen und Wirken geformt, ganz in der Tradition der grossen Vertreter der humanistischen Tradition, die für Fromm auch heute noch lebendig ist. [49]

 

 

2) "Entfremdung" in "Das Menschenbild bei Marx" (1961b)

 

Ein zweites Mal wendet sich Fromm dem Entfremdungsgedanken sechs Jahre später in seiner Marx-Studie intensiv zu. Dort schreibt er einleitend zum entsprechenden Kapitel. [50]

 

"Die Vorstellung des tätigen, produktiven Menschen, der die gegenständliche Welt mit seinen Kräften ergreift und sich aneignet, kann ohne den Begriff der Negation der Produktivität, der Entfremdung, nicht umfassend verstanden werden." (1961b. GA V: 368)

 

Fromm nimmt dann die Bedeutung des Marxschen Entfremdungsbegriffes auf, wo dieser – gleichbedeutend mit "Entäusserung" – besage, "dass der Mensch sich selbst in seiner Aneignung der Welt nicht als Urheber erfährt, sondern dass die Welt (die Natur, die anderen, er selbst) ihm fremd bleibt" (ebd.). Die vom Menschen geschaffenen Gegenstände stehen über ihm oder verhalten sich ihm gegenüber gleichgültig oder gar feindlich.

 

"Entfremdung heisst, die Welt und sich selbst wesentlich passiv, rezeptiv, in der Trennung von Subjekt und Objekt zu erfahren." (ebd.)

 

Erneut die alttestamentarische Idee des Götzendienstes aufgreifend, interpretiert Fromm die Bedeutung von Entfremdung bei Marx als "Verdinglichung" des Menschen durch die Übertragung der Attribute seines Lebens auf die von ihm selbst geschaffene Welt der Gegenstände. In ihrer Vergötzung tritt der Mensch nur noch indirekt mit sich, mit andern und mit der Welt in Kontakt, er verfällt der "Unterwerfung unter das in den Götzenbildern erstarrte Leben". (ebd.: 368f.)

 

Entfremdung muss nach Fromm keineswegs eine religiöse Bedeutung haben, sondern ist ein sehr allgemeines, psychologisch analysierbares Phänomen. Wesentlich für sie ist die Unfähigkeit, "sich selbst in seinem Schöpfungsakt zu erleben" (ebd.: 369). [51] Ihre häufigste Erscheinungsform findet sie in der Sprache, wo an die Stelle wirklicher, gelebter Erfahrung das Wort tritt.

 

Den Gedanken der Produktivität in der spezifisch Frommschen Bedeutung und die Kritik an der Erstarrung, Leere und Leblosigkeit haben nach Fromm auch Spinoza, Hegel und Marx an zentralen Stellen ihrer Schriften ausgedrückt, und er ist auch als Eckstein von Goethes Denken aufweisbar. Ja, die gesamte existenzialistische Philosophie von Kierkegaard an erscheint Fromm als eine Bewegung der Rebellion gegen die Entmenschlichung des Menschen unter den industriellen Lebensbedingungen.

 

Bei Hegel wie auch bei Marx sieht Fromm letzten Endes die gesamte Weltgeschichte als die Entwicklung und Überwindung der menschlichen Entfremdung.

 

"In der Philosophie der Geschichte schrieb er (Hegel, U. A.) dass das; 'wonach der Geist wirklich strebe, die Verwirklichung seiner Vorstellung sei, aber indem er das tue, verberge er dieses Ziel vor seiner eigenen Vision und sei in dieser Entfremdung vor seinem eigenen Wesen stolz und zufrieden. (...) Für Marx wie für Hegel basiert der Begriff der Entfremdung auf der Unterscheidung zwischen Existenz und Wesen, auf der Tatsache, dass die menschliche Existenz ihrem Wesen entfremdet ist, oder, anders ausgedrückt – dass er nicht ist, was er sein sollte, und dass er sein sollte, was er sein könnte." (ebd.: 370) [52]

 

Marx hat den Prozess wesentlich in der "Arbeit" des Menschen gesehen, worunter er die tätige Bezogenheit des Menschen zur Natur versteht. In der Entwicklung von Privateigentum und Arbeitsteilung hat die Arbeit im Marxschen Verstandnis jedoch ihren Charakter als Ausdruck der menschlichen Kräfte verloren, um ein dem menschlichen Wollen und Tun verschiedenes, ja entgegengesetztes Sein anzunehmen.

 

lm Akt der Produktion erfährt der Mensch seine eigene Tätigkeit als eine fremde und als Leiden, seine Kraft wird zur Ohnmacht, seine Zeugungsfähigkeit zur Entmannung. Ebenso erlebt er die sinnliche Aussenwelt, die Naturgegenstände, in ihrem feindlichen, ihm entgegentretenden Charakter. Der Produktionsprozess die Organisation der Arbeit verkehrt sich in seiner Ursprünglichkeit: Nicht mehr der Produktionsprozess ist für den Arbeiter da, sondern umgekehrt der Arbeiter für diesen. Fromm betont bei der Darstellung dieses Gedankens den emanzipatorischen Ansatz von Marx, der in der leninistischen und besonders in der stalinistischen Ideologie völlig in sein Gegenteil verkehrt worden sei. [53]

 

"Selbst unter Sozialisten gibt es in diesem Punkt ein weitverbreitetes Missverständnis über Marx. Man glaubt, dass Marx hauptsächlich von der ökonomischen Ausbeutung des Arbeiters sprach und von der Tatsache, dass sein Anteil am Produkt nicht so gross sei, wie es sein sollte, oder dass das Produkt ihm statt dem Kapitalisten gehören sollte. Aber (...) der Staat (wäre) als Kapitalist, wie in der Sowjetunion, Marx nicht willkommener gewesen als der Privatkapitalist. Auch die Gleichheit des Einkommens interessierte ihn nicht primär. Was ihn interessiert, ist die Befreiung des Menschen von einer Form der Arbeit, die seine Individualität zerstört, die ihn in ein Ding verwandelt und ihn zum Sklaven der Dinge macht." (ebd.: 371) [54]

 

Marx' Hauptanliegen sei sein Kampf gegen die Versklavung des Menschen unter den Produktionsbedingungen der (früh)kapitalistischen Gesellschaft gewesen. ln der nicht-entfremdeten Arbeit verwirkliche sich der Mensch jedoch nicht nur als Individuum, sondern zugleich als Gattungswesen:

 

"Für Marx wie für Hegel und viele andere Denker der Aufklärung verkörpert jedes Individuum die Gattung, das heisst die Menschheit als ganze, die Universalität des Menschen; die Entwicklung des Menschen führt für sie zur Entfaltung seines uneingeschränkten Menschseins." (ebd.) [55]

 

Für Marx ist Entfremdung während der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben, erreicht aber in der kapitalistischen Gesellschaft ihren Höhe- und gleichzeitig ihren Wendepunkt. Die Befreiung der Gesellschaft vom Privateigentum vollzieht sich in Form der politischen Emanzipation der Arbeiter, in deren Befreiung zugleich die allgemein menschliche enthalten ist. Diesen Aspekt betont Fromm besonders, um aufzuzeigen, dass das Marxsche Anliegen nicht einfach die Befreiung der Arbeiterklasse von ihren desolaten Lebensbedingungen gewesen ist, sondern vielmehr die Wiederherstellung der freien und nicht-entfremdeten Tätigkeit des Menschen in einer Gesellschaft, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, ohne verkrüppelt oder als Mittel für partikuläre Zwecke missbraucht zu werden. [56]

 

Im Detail weist Fromm dann nach, dass die Tendenz, einen "frühen" von einem "reifen" Marx zu unterscheiden, zu einem völlig verzerrten Bild der "wahren Marxschen Anliegen" führe, wie es von der Orthodoxie bis heute im Interesse ihrer Machterhaltung gepflegt werde. [57]

 

"Für das Verständnis von Marx ist es von äusserster Wichtigkeit, sich klarzumachen, wie sehr der Begriff der Entfremdung im Denken des jungen Marx, der die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte, und des älteren Marx, der Das Kapital schrieb, war und blieb." (ebd.: 372) [58]

 

Das Marxsche Entfremdungskonzept kann in vier Einzelaspekte aufgeteilt werden: Entfremdung von der Natur, von sich selbst, von den Produkten menschlicher Arbeit und Entfremdung von den Mitmenschen. Fromm sieht im Gedanken von Marx; dass die entfremdete Arbeit dem Menschen seinen eigenen Leib und die Natur ausser ihm; sein geistiges und sein menschliches Wesen entfremde, eine Parallele zum Kantschen Prinzip, wonach der Mensch immer als Selbstzweck und nie als Mittel gelten solle, was ihm wieder Anlass zu radikaler Kritik am "kommunistischen Totalitarismus" gibt:

 

"Das Menschsein des Menschen, sagt Marx, darf nicht einmal ein Mittel seiner individuellen Existenz werden: wie viel weniger könnte es als Mittel des Staates; der Klasse oder der Nation betrachtet werden." (ebd.: 374) [59]

 

Gegen Marx' Ansicht, dass die Arbeiterklasse die am meisten entfremdete Klasse sei und die Überwindung der Entfremdung notwendig mit der Befreiung der Arbeiterklasse beginne, wendet Fromm grundsätzlich ein:

 

"Marx sah nicht das Ausmass voraus, in dem die Entfremdung zum Schicksal der Mehrzahl der Menschen werden sollte, insbesondere ahnte er nichts von dem immer grösser werdenden Teil der Bevölkerung, der Symbole und Menschen statt Menschen manipuliert. Wenn irgendwer, dann sind der Angestellte, der Vertreter, der Manager heutzutage noch entfremdeter als der Facharbeiter." (ebd.: 375f.)

 

Damit nimmt Fromm – zwanzig Jahre vor André Gorz – "Abschied vom Proletariat" als Subjekt gesellschaftspolitischer Veränderung im Überschreiten der Gegenwart auf eine sozialistische Gesellschaft hin. [60]

 

Fromm kritisiert an Marx zudem, dass er die Bedeutung der Bürokratie unterschätzt und auch die Entfremdung ausserhalb des Arbeitsplatzes, die in der modernen Welt allgemein geworden ist, nicht vorausgesehen habe. Arbeiter, Angestellte und Bürokraten sind heute gleichermassen von der Sehnsucht nach immer neuen Konsumartikeln erfüllt, die sie oft nicht einmal benutzen, sondern einfach aus Gier nach ihrem Besitz anhäufen.

 

"Wenn der moderne Mensch auszusprechen wagte, was er sich unter dem Himmel verstellt, so würde er vermutlich eine Vision des grössten Warenhauses der Welt beschreiben, in dem alle letzten Neuheiten ausgestellt wären und wo er Geld genug hätte, sie alle zu kaufen. Er würde mit offenem Mund in diesem Himmel der Apparate und Gebrauchswaren herumlaufen, wenn es nur immer mehr und modernere Dinge darin zu kaufen gäbe und wenn der Nachbar vielleicht ein bisschen weniger Geld dafür zur Verfügung hätte." (1955a, GA IV: 98) [61]

 

 

b) Versuch einer Differenzierung des Frommschen Entfremdungsbegriffes

 

In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von Karl Marx (1844), auf die Fromm in seinem Versuch einer Synthese von Psychoanalyse und historischem Materialismus wie auch in seiner Darlegung des Entfremdungsgedankens immer wieder zurückgreift, werden unter vier Punkten sechs verschiedene Formen von Entfremdung unterschieden, die mir als Raster bei meinem Differenzierungsversuch dienen sollen.

 

So heisst es bei Marx:

 

"Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1) die Natur entfremdet, 2) sich selbst seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben und zweitens macht sie das letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form." (MEGA 1,3: 87)

 

Und wenig später:

 

"Die entfremdete Arbeit macht also: 3) das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur, als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur ausser ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen. 4) Eine unmittelbare Konsequenz davon, dass der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen. Wenn der Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andre Mensch gegenüber. Was von dem Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, zum Produkt seiner Arbeit und zu sich selbst, das gilt von dem Verhältnis des Menschen zum andren Menschen, wie zur Arbeit und dem Gegenstand der Arbeit des andren Menschen. Überhaupt, der Satz, dass dem Menschen sein Gattungswesen entfremdet ist, heisst, dass ein Mensch dem andren, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist. Die Entfremdung des Menschen, überhaupt jedes Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst steht, ist erst verwirklicht, drückt sich aus in dem Verhältnis, in welchem der Mensch zu den andren Menschen steht. Also betrachtet in dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit jeder Mensch die andren nach dem Massstab und dem Verhältnis, in welchem er selbst als Arbeiter sich befindet." (MEGA 1,3: 89)

 

Marx unterscheidet also kurz zusammengefasst zwischen der Entfremdung des Menschen von der Natur, von seiner Arbeit als tätiger Funktion, von der menschlichen Gattung, von den Mitmenschen, von den Produkten seiner Arbeit und von sich selbst. [62]

 

Ich möchte vorausschicken, dass die Mehrheit der Entfremdungspassagen Fromms eine eindeutige Zuordnung nicht zulässt; in ihnen kommt "Entfremdung" in einem allgemeinen Sinn, als Symptom oder gar Syndrom zur Anwendung. Sehr oft erwähnt Fromm auch verschiedene Marxsche Entfremdungsbereiche gemeinsam, etwa:

 

(…) Menschen dieses Typus (jene mit einer Marketing-Orientierung. U. A.) sind ihrer Arbeit, sich selbst, ihren Mitmenschen und der Natur entfremdet." (1974a, GA Il: 376)

 

Oder welcher Kategorie soll der folgende Ausschnitt (aus dem Aufsatz Die prophetische Auffassung vom Frieden ) zugeordnet werden?

 

"Der Mensch ist verderbt, weil er entfremdet ist und seine Entfremdung nicht überwunden hat. Aber diese Verderbtheit liegt im Wesen der menschlichen Existenz selbst, und es ist der Mensch selbst, nicht Gott, der die Entfremdung aufheben kann, indem er eine neue Harmonie erreicht." (1960d, GA VI: 70)

 

1) Entfremdung von der Natur

 

Hierbei handelt es sich um eine fundamentale Entfremdungsweise, die auch unter optimalsten Voraussetzungen des gesellschaftlichen Umfeldes nicht auflösbar ist, daher auch in der vollen Verwirklichung der von Fromm postulierten humanistisch-sozialistischen Sozietät fortbestehen wurde. Diese Entfremdung ist mit den existenziellen Dichotomien des Menschen als einem vernunftbegabten Naturwesen gegeben; sie ist der menschlichen "Natur" damit immanent.

 

"Die Vernunftbegabung, des Menschen Segen, ist auch sein Fluch. Sie zwingt ihn, sich unablässig mit der Lösung seiner an sich unlösbaren Dichotomie zu beschäftigen. Darin unterscheidet sich die menschliche Existenz von der aller übrigen Organismen. Sie befindet sich in einem Zustand ständiger und unvermeidlicher Unausgeglichenheit." (1947a, GA II: 30)

 

Für Fromm ist der Mensch das einzige Lebewesen, das unter Langeweile und Unzufriedenheit leiden kann, das sich aus dem Paradies ausgeschlossen fühlt:

 

Die eigene Existenz ist ihm zu einem Problem geworden, das er lösen muss und dem er nicht entfliehen kann. Er kann nicht auf einen vormaligen Zustand der Harmonie mit der Natur regredieren: er muss vorwärtsschreitend seine Vernunft entwickeln, bis er selbst zum Herrn über die Natur und zum Herrn über sich selbst geworden ist.

   (...) Diese Spaltung in der Natur des Menschen führt zu Dichotomien, die ich 'existenzielle' nenne, weil sie in der Existenz des Menschen selbst wurzeln. Es sind Widersprüche, die der Mensch nicht aufheben, auf die er aber entsprechend seinem Charakter und seiner Kultur verschieden reagieren kann." (ebd.: 31) [63]

 

Zu diesen "existenziellen" Dichotomien, die von der "historischen", aufhebbaren, sorgfältig zu unterscheiden sind, gehört im Wesentlichen das Bewusstsein des Menschen von seinem unabwendbaren Tod und damit verknüpft die Dichotomie zwischen den im Menschen angelegten Möglichkeiten der Entfaltung seiner Kräfte und der Kürze des menschlichen Lebens. ln den existenziellen Dichotomien erfährt sich der Mensch als Teil der Natur und als diese zur gleichen Zeit transzendierendes Wesen. [64]

 

Der Mensch erlebt sich in der Welt als Fremder, als "Überhang". Das löst in ihm die Sehnsucht aus, diese Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden und er beginnt sich in Bewegung zu setzen, sich als geschichtliches Wesen zu konstituieren. Der Verlust des "Naturseins" ist die Grundvoraussetzung menschlicher Freiheit überhaupt. Nur durch schöpferische Tätigkeit und in der Realisierung von "Liebe" und "Vernunft" kann diesem Gefühl der Entfremdung von der Natur in fruchtbarer Weise begegnet werden: es ist aber niemals gänzlich überwindbar. Als Grundintention der Menschheitsentwicklung betrachtet Fromm die Einheit "auf einer neuen Ebene, die der Mensch nur erreichen kann, nachdem er seine Getrenntheit empfunden und das Stadium der Entfremdung von der Welt durchlaufen hat (U. A.) und ganz geboren wurde." (1960, GA VI: 318) [65]

 

Textpassagen, welche die Entfremdung des Menschen von der Natur direkt ausdrücken, sind überaus spärlich zu finden in Fromms Gesamtwerk. Aber es gibt sie. [66] Hier ein Beispiel:

 

"Während der Wandlung vom primitiven Unbewussten zum Ich-Bewusstsein empfindet man infolge der Kluft zwischen Subjekt und Objekt, der Trennung zwischen dem universalen Menschen und dem gesellschaftlichen Menschen, zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein, die Welt als entfremdete Welt. In dem Masse jedoch, in dem das Bewusstsein geübt wird, sich zu öffnen und den (...) Filter zu lockern, verschwindet die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten." (ebd.)

 

Zu berücksichtigen ist aber, dass der von Fromm immer wieder aufgenommene Mythos vom Verlorenen Paradies sich genau auf diesen Sachverhalt bezieht. Das zeigt die folgende Aussage:

 

"Nach dem hebräischen und auch nach dem griechischen Mythos steht am Anfang der Menschheitsgeschichte ein Akt des Ungehorsams. Als Adam und Eva noch im Garten Eden lebten, waren sie ein Teil der Natur; sie standen in voller Harmonie mit ihr und transzendierten sie noch nicht. (...) Der Akt des Ungehorsams setzte Adam und Eva frei und öffnete ihnen die Augen. Sie erkannten, dass sie einander fremd waren und dass auch die Aussenwelt ihnen fremd, ja sogar feindlich war. Ihr Akt des Ungehorsams zerstörte die primäre Bindung an die Natur und machte sie zu Individuen." (1963d, GA IX: 367) [67]

 

Entfremdung von der Natur weist Fromm auch im Phänomen der "Todesverleugnung" auf, wie es in den hochindustrialisierten Staaten (besonders in den USA) in der Professionalisierung der Begräbnisse und der Ästhetisierung der Leichname mit kosmetischen Mitteln zu beobachten ist:

 

"Meines Erachtens hängt diese Verleugnung des Todes tief mit einer unsere gesamte Kultur durchdringenden Einstellung zusammen: mit der Entfremdung von der Natur. Seit der Renaissance ist die Natur Gegenstand unserer Beherrschung. Der Mensch setzt seinen ganzen Stolz darein, die Natur völlig zu erobern und eine neue vom Menschen bestimmte Welt zu erschaffen und (durch Naturwissenschaft und Technik) wie Gott allwissend und allmächtig zu werden. Nun ist aber der Tod tatsächlich das einzige Phänomen, das unseren Mythos von der Naturbeherrschung Lügen straft. Er zeigt uns die Grenzen unserer Technik, und nichts liegt näher, als dass wir mit diesem unerträglichen Tatbestand dadurch fertig zu werden versuchen, dass wir ihn einfach leugnen, zwar nicht im wissenschaftlichen Sinn, aber im alltäglichen Leben." (1976c, GA IX: 394; meine Hervorh.)

 

 

2) Entfremdung von den Mitmenschen

 

Es ist klar, dass der Sozialpsychologe Fromm besonders sensibel für die Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen ist. [68] So stellt er in Die Furcht vor der Freiheit fest:

 

"Das Gefühl der lsolierung und Ohnmacht des heutigen Menschen wird noch durch den Charakter seiner menschlichen Beziehungen verstärkt. Die konkreten Beziehungen zwischen den Menschen haben ihren unmittelbaren und humanen Charakter verloren. Statt dessen manipuliert man einander und behandelt sich gegenseitig als Mittel zum Zweck. In allen persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen gelten die Gesetze des Marktes. Es liegt auf der Hand, dass die Menschen einander gleichgültig sein müssen, wenn sie Konkurrenten sind. Andernfalls könnten sie ihre wirtschaftlichen Aufgaben nicht erfüllen, sich gegenseitig zu bekämpfen, und notfalls auch nicht davor zurückzuschrecken, sich gegenseitig wirtschaftlich zugrunde zu richten." (1941a, GA I: 287)

 

Für die Entfremdung zwischen den Menschen macht Fromm die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, den erbarmungslosen und ruinösen Wettbewerb auf dem "freien Markt" und das damit verbundene Menschenbild des homo homini lupus verantwortlich, das der bürgerlichen Ideologie zugrunde liegt.

 

In der modernen Gesellschaft ist auch die weite Verbreitung irrationaler Autoritäten für diese Art der Entfremdung verantwortlich. Dabei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nach Fromms Meinung eine Tendenz ergeben von der offenen Diktatur zu verinnerlichten Zwängen, zur Konformität und Anonymität der Wettbewerbsgesellschaft, die ihre Ziele nicht weniger erfolgreich mit einem Minimum an offenen Konflikten erreicht.

 

ln der Warengesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte sind die Menschen kaum mehr aufeinander bezogen, und wenn doch, so meist in einer unverbindlichen oder symbiotischen und damit entfremdeten Weise. Ihr Geschmack ist nivelliert, den Gesetzen der Massenproduktion geopfert. Freundschaften und intime Beziehungen werden häufig nicht aufgrund persönlicher Zuneigung geschlossen, sondern vom Arbeitsplatz und der Nachbarschaft abhängig gemacht. Echter persönlicher Austausch findet kaum mehr statt, die Beziehungen sind von stereotypen Rollenmustern geprägt; diese werden von den Agenten der Freizeitindustrie unablässig propagiert.

 

Die Menschen der Moderne leben atomisiert, ohne echtes Gemeinschaftsgefühl, weitgehend unfähig zur Schaffung neuer Lebensformen in Kunst, Kultur und Gesellschaft.

 

Dem setzt Fromm die Forderung nach einem Umdenken in allen Lebensbereichen entgegen. Als Leitbild dient ihm die "Liebe", nicht als kommerzialisierbares, standardisiertes Gefühl, sondern als bewusstes, ganzheitliches und kreatives Sichhinwenden zum Mitmenschen; durch sie entsteht die paradoxe Situation, dass zwei Menschen sich vereinigen und doch getrennt bleiben, wie Fromm in Wege aus einer kranken Gesellschaft ausführt:

 

"Liebe in diesem Sinn ist niemals auf eine Person beschränkt. Wenn ich nur einen einzigen Menschen und niemand sonst liebe, wenn mich meine Liebe zu einer bestimmten Person meinen Mitmenschen noch weiter entfremdet und mich noch weiter von ihnen entfernt, dann kann ich an diese Person auf mancherlei Weise gebunden sein, aber ich liebe nicht. Wenn ich sagen kann, 'ich liebe dich', sage ich, 'ich liebe in dir die ganze Menschheit, alles Lebendige; ich liebe in dir auch mich selbst." (1955a, GA IV: 27) [69]

 

Zur Überwindung der Entfremdung zwischen den Menschen erscheint Fromm das Bewusstwerden des eigenen Unbewussten unabdingbar, denn sich "seines Unbewussten bewusst zu werden, heisst mit seiner vollen Humanität in Berührung kommen und die Schranken beseitigen, welche die Gesellschaft in jedem Menschen und folglich auch zwischen jedem Menschen und seinen Mitmenschen errichtet." (1962a, GA IX: 121)

 

Dieses schwer zu erreichende Ziel ist die Emanzipation des Menschen "von der gesellschaftlich bedingten Entfremdung von sich selbst und der Menschheit" (ebd.).

 

"Die Haltung dem 'Fremden' gegenüber ist von der Haltung sich selbst gegenüber nicht zu trennen. Solange ich einen Mitmenschen als grundsätzlich verschieden von mir erfahre, solange er für mich ein Fremder ist, bleibe ich auch mir selber ein Fremder. Wenn ich mich aber ganz selbst erlebe, dann erkenne ich, dass ich auch nichts anderes bin als jeder andere Mensch, dass ich das Kind, der Sünder, der Heilige, der Hoffende und der Verzweifelnde bin, der Mensch, der sich freuen, und der Mensch, der traurig sein kann. Ich entdecke, dass nur die Denkmuster, die Sitten, die Oberfläche verschieden sind, dass aber die menschliche Substanz die gleiche ist. Ich entdecke, dass ich jedermann bin und dass ich mich selbst erfahre, wenn ich meinen Mitmenschen entdecke und umgekehrt. Bei diesem Erlebnis begreife ich, was Humanität bedeutet: Ich entdecke den Einen Menschen." (1962a, GA IX: 149) [70]

 

Die Gegenpole zu dieser Einstellung sind Nationalismus und Xenophobie, aber auch die als folie à deux bekannte Erscheinung abgöttischer Liebe zu einem Partner, die Fromm als Ausdruck eines erweiterten, krankhaft gesteigerten Narzissmus interpretiert und als Lösungsansatz für das Problem der Einsamkeit ablehnt.

 

 

3) Entfremdung von der menschlichen Gattung und von sich selbst

 

Da bei Fromm jeder einzelne Mensch die Gattung repräsentiert, kann die menschliche Selbstentfremdung zugleich als Entfremdung von der Gattung verstanden werden.

 

Auf die Selbstentfremdung beziehen sich die weitaus meisten Passagen im Frommschen Gesamtwerk, in denen die Entfremdung zur Diskussion steht.

 

Hier greift nun Fromm voll in die Saiten. Unbestreitbare Kompetenz für diese Thematik geben ihm fünfzig Jahre Erfahrung als Psychoanalytiker. Diese haben ihm tiefe Einblicke in die beschädigenden Auswirkungen kapitalistischer Verhältnisse gewährt.

 

"Am verheerendsten aber wirkt sich dieser Geist der Instrumentalisierung und Entfremdung auf die Beziehungen des Menschen zu seinem Selbst aus. (...) Der Mensch verkauft nicht nur Waren, er verkauft auch sich selbst und fühlt sich als Ware. Der Handarbeiter verkauft seine Körperkraft; der Geschäftsmann, der Arzt, der Büroangestellte verkauft seine 'Persönlichkeit'. (...) Wie bei anderen Waren, ist es auch hier der Markt, der über den Wert dieser menschlichen Eigenschaften, ja sogar über deren Existenz entscheidet." (1941, GA I: 287f.)

 

Da der Wunsch und das Bestreben, seine Kräfte produktiv zu gebrauchen, nach Fromm dem Menschen angeboren ist, richtet er seine Kritik vor allem gegen die Behinderungen, die dem Menschen aus der gesellschaftlichen Fehlorganisation erwachsen.

 

"So wie der steril und destruktiv gewordene Mensch in zunehmendem Masse gelähmt und sozusagen in einem circulus vitiosus (Teufelskreis) gefangen ist, so gewinnt ein Mensch, der sich seiner eigenen Kräfte bewusst ist und sie produktiv verwendet, an Stärke, Glauben und Glück. Er ist immer weniger in Gefahr, von sich selbst entfremdet zu werden. Er hat einen circulus virtuosus (Tugendkreis) geschaffen." (1947a, GA II: 145)

 

Die Selbstentfremdung ist für Fromm jedoch nicht einfach nur ein gesellschaftliches, sondern wesentlich auch ein ethisches Problem. Denn Entfremdung – in religiöser Sprache als "Sünde" bezeichnet – drückt sich auch beim modernen Menschen in Gefühlen von Schuld und schlechtem Gewissen aus. Er verachtet sich in der Impotenz, seinen eigenen Kräften vertrauen und sich zum Glauben an sich selbst aufschwingen zu können.

 

"Unser ethisches Problem ist die Gleichgültigkeit des Menschen sich selbst gegenüber. Wir haben den Sinn für die Bedeutung und Einzigartigkeit des Individuums verloren und haben uns zu Werkzeugen für Zwecke gemacht, die ausserhalb von uns selbst liegen. Wir erleben und behandeln uns als Ware und werden unseren eigenen Kräften entfremdet. Wir sind zu Dingen geworden, und auch unsere Mitmenschen sind für uns Dinge. (...) Wir haben kein Gewissen im humanistischen Sinne, denn wir wagen es nicht, uns auf unsere eigene Urteilsfähigkeit zu verlassen. Wir sind eine Herde: Wir glauben, dass der Weg, dem wir folgen, zu einem Ziel führen müsse, weil wir alle anderen denselben Weg gehen sehen. Wir tasten im Dunkeln und bleiben nur deshalb mutig, weil wir auch alle andern pfeifen hören." (ebd.: 156)

 

Dem sich selbst entfremdeten Menschen ist es nahezu unmöglich, mit sich allein zu sein, "weil ihn dann eine panische Angst vor dem Nichts erfasst" (1955a, GA IV: 112).

 

Den Gedanken der Selbstentfremdung sieht Fromm bei Marx im Anschluss an Fichte und Hegel besonders klar vorgezeichnet;

 

"Noch deutlicher vielleicht als die Ideen vieler anderer Philosophen der Aufklärung ist das Denken von Marx messianisch-religiös in weltlicher Sprache. Die gesamte vergangene Geschichte ist nur 'Vorgeschichte', es ist die Geschichte der Selbstentfremdung: mit dem Sozialismus wird das Reich der menschlichen Geschichte, der menschlichen Freiheit anbrechen. Die klassenlose Gesellschaft der Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Vernunft wird der Anfang einer neuen Welt sein, auf die sich die gesamte vorangegangene Geschichte zubewegte." (ebd.: 166)

 

Einer der Hauptfaktoren der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung ist in Fromms Sichtweise die "Konsolidierung unseres eigenen Produkts zu einer objektiven Macht über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen enttäuscht und unsere Berechnungen zunichte macht" (ebd.: 177).

 

"Die Analyse der Gesellschaft und des Geschichtsprozesses muss mit dem Menschen und nicht mit einer Abstraktion beginnen, aber mit dem wirklichen, konkreten Menschen mit all seinen physiologischen und psychologischen Eigenschaften. Sie muss mit einer Auffassung vom Wesen des Menschen beginnen, und die Untersuchung von Wissenschaft und Gesellschaft dient nur dazu, verstehen zu lernen, wie die Umstände den Menschen verkrüppelt haben, wie er sich selbst und seinen Kräften entfremdet wurde." (ebd.: 178) [71]

 

Die Selbstentfremdung hat gerade in unserem Jahrhundert besonders schlimme Ausmasse angenommen. Eine Grosszahl von Menschen erfährt das Leben ohne Sinn und Bedeutung, bewältigt den Alltag ohne Freude und Glauben in einer irrealen Weise, hält sich aber gleichzeitig für "glücklich", weil dieser Zustand von aussen generell erwartet und als Inbegriff für Normalität angesehen wird.

 

"Das Problem des neunzehnten Jahrhunderts war, dass Gott tot ist; das Problem des zwanzigsten Jahrhunderts ist, dass der Mensch tot ist. Im neunzehnten Jahrhundert war Unmenschlichkeit gleichbedeutend mit Grausamkeit:;im zwanzigsten Jahrhundert bedeutet sie eine schizoide Selbstentfremdung. In der Vergangenheit bestand die Gefahr, dass der Mensch zum Sklaven wurde. Die Gefahr der Zukunft liegt darin, dass der Mensch zum Roboter wird. Allerdings rebellieren Roboter nicht. Aber angesichts der Natur des Menschen können Roboter nicht leben und innerlich gesund bleiben, sie werden zu 'Golems', sie werden ihre Welt und sich selbst zerstören, weil sie die Langeweile eines sinnlosen Lebens nicht länger ertragen können." (ebd.: 252)

 

Unter den Lebensbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist der Mensch materiell reicher geworden, während seine Menschlichkeit verkümmert ist. An seinem Arbeitsplatz wird er als Teil eines Produktionsteams gelenkt, während er in der Freizeit als perfekter Konsument fungieren soll, von den Slogans und Suggestionen der Werbebranche in die Arme eines auf die Massenproduktion abgestimmten Konformismus getrieben, und dabei hängt er noch der Illusion an, ganz seinem eigenen Geschmack zu folgen. Kritisches Denken und echtes Gefühl sind zur Rarität geworden. Die ungeheuer gewachsene Fähigkeit des modernen Menschen, zu produzieren und zu konsumieren, haben ihm seine "eigentlichen", humanistischen Ziele verlieren lassen, was für den Einzelnen ebenso gilt wie für ganze Nationen. [72]

 

Selbstentfremdung sieht Fromm jedoch auch in der inneren Struktur der monotheistischen Religionen: dabei übernimmt er weitgehend Feuerbachs Standpunkt:

 

"Wenn der Mensch so seine wertvollsten Eigenschaften auf Gott projiziert hat, wie steht es dann um seine Beziehung zu seinen eigenen Kräften? Sie sind von ihm losgelöst, und in diesem Prozess ist er sich selbst entfremdet worden. Alles an ihm gehört jetzt Gott, und ihm ist nichts geblieben. Sein einziger Zugang zu sich selbst geht durch Gott. In der Anbetung Gottes sucht er mit dem Teil seiner selbst in Berührung zu kommen, den er durch die Projektion verloren hat. Nachdem er Gott alles, was sein war, gegeben hat, betet er zu ihm, er möge ihm etwas von dem zurückgeben, was ihm ursprünglich zu eigen war. Da er dies aber preisgegeben hat, ist er ganz auf Gottes Gnade angewiesen. Er muss sich notwendig wie ein 'Sünder' vorkommen, da er sich all dessen, was gut ist, beraubt hat, und nur durch Gottes Erbarmen oder Gnade kann er das zurückerhalten, was allein ihn menschlich macht." (1950a, GA Vl: 256) [73]

 

Die Abhängigkeit von einem theistisch verstandenen Gott macht den Menschen "sogar schlecht", da sie ein Wesen ohne Glauben an seinen Mitmenschen oder an sich, ohne Erfahrung seiner eigenen Liebeskraft und seines eigenen Vernunftvermögens" (ebd.) ausbilde. Theistischer Gottesglaube mündet in Fromms Auffassung in eine Trennung zwischen dem weltlichen" und dem "Heiligen" und letztlich in ein unentrinnbares Dilemma:

 

"In seinem weltlichen Tun handelt der Mensch ohne Liebe; in jenem Bezirk seines Lebens, der der Religion vorbehalten ist, fühlt er sich als Sünder (der er auch ist, denn ohne Liebe leben heisst, in Sünde leben) und versucht, etwas von seiner verlorenen Menschlichkeit durch die Gottesbeziehung zurückzugewinnen. Gleichzeitig müht er sich um Vergebung, indem er seine eigene Hilflosigkeit und Unwürdigkeit bekennt: So artet sein Bestreben, Vergebung zu erwerben, gerade in jene Haltung aus, aus der die Sünde stammt." (ebd.)

 

Fromm bekennt sich denn auch zu einem "nicht-theistischen Gottesverständnis", wobei seine Faszination der buddhistischen Weltanschauung gilt, besonders in der historischen Form des Zen. Sympathie bewahrt er sich aber auch für die Religion seiner Kindheit und Jugend, das Judentum, "in dem eine strenge, antiautoritäre Tradition Gestalt gewinnen konnte, weil die weltliche Autorität niemals eine grosse Chance hatte, Macht auszuüben und eine Legende von ihrer Weisheit entstehen zu lassen" (ebd.: 257), was den humanistischen Aspekten dieser Religíonsform grosse Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt habe.

 

"Wo jedoch die Religion sich mit der weltlichen Macht Verbündete, musste sie notwendigerweise autoritär werden. Der wahre Sündenfall des Menschen ist seine Entfremdung von sich selbst, seine Unterwerfung unter die Macht, seine Wendung gegen sich selbst – auch wenn sie als Verehrung Gottes verkleidet war." (ebd.)

 

Abgesehen von der längerfristigen Möglichkeit einer gesellschaftlichen Umgestaltung betrachtet Fromm neben der mystischen Erfahrung (dem "Satori" des Zen-Buddhismus) [74] die Psychoanalyse als eine konkrete Möglichkeit zur Überwindung der Selbstentfremdung. In seinem Verständnis der Aufhebung von Verdrängtem weicht er allerdings wesentlich ab von Sigmund Freud, dem Begründer der klassischen psychoanalytischen Lehre und Praxis: Verdrängungen sind für ihn wesentlich das Resultat gesellschaftlich bedingter Einschränkungen der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, die wie ein Filter auf den Menschen wirken:

 

"In dem Ausmass, in dem ich mich von diesem Filter befreien und mich als ganzen Menschen empfinden kann, das heisst, in dem Ausmass, in dem die Verdrängung abnimmt, bin ich mit den tiefsten Quellen in meinem Innern, das heisst mit der ganzen Menschheit, in Berührung. Wenn jede Verdrängung aufgehoben wurde, gibt es kein Unbewusstes im Gegensatz zum Bewussten mehr, sondern ein direktes, unmittelbares Erleben; im gleichen Ausmass, in dem ich mir selbst nicht fremd bin, ist mir niemand und nichts fremd. Und ferner, in dem Grad, in dem ein Teil von mir selbst entfremdet und mein 'Unbewusstes' von meinem Bewusstsein getrennt ist (das heisst, dass ich, der ganze Mensch, von mir, dem gesellschaftlichen Menschen, getrennt bin), wird die Art und Weise, wie ich die Welt erfasse, auf verschiedene Arten verfälscht." (1960a, GA VI: 345) [75]

 

Diese Verfälschungen sind für Fromm im Einzelnen die parataktische Entstellung (Übertragung), das falsche Bewusstsein durch Projektion von Wünschen und Ängsten und die lntellektualisierung (cerebration), verstanden als drei sich "überschneidende Aspekte der gleichen Erscheinung von 'Unwirklichkeit', die solange vorhanden ist, wie der universale Mensch vom gesellschaftlichen Menschen verschieden ist" (ebd.: 352) – eine Vorstellung, die Fromm auch im Neuen Testament entdeckt. [76]

 

Dank der psychoanalytischen Methode werden "unsere Illusionen über die Welt Schritt für Schritt auf[ge]deckt, so dass parataktische lntellektualisierungen allmählich verschwinden" (ebd.: 354). Der Mensch, der diesen Prozess durchläuft, wird sich selbst und damit auch der Welt weniger fremd,

 

" (...) weil er zum Universum in seinem Inneren Beziehungen angeknüpft hat, hat er auch Beziehungen zum äusseren Universum angeknüpft“. (ebd.) [77]

 

Auch bei Freud entdeckt Fromm ein analoges Entfremdungskonzept: die Übertragung. [78] Allerdings stellt er Freuds Verständnis von ihr im therapeutischen Zusammenhang in Frage. Die Vorstellung, der Patient trete zu seinem Analytiker wie (früher) zu seinem Vater oder seiner Mutter in Beziehung und richte die entsprechenden Gefühle auf ihn, erklärt das Phänomen nach Fromms Meinung nicht vollständig. Man müsse darin vielmehr den Versuch des Patienten sehen, das Gefühl innerer Leere und Ohnmacht zu überwinden, indem er sich ein Objekt wähle, auf das er alle seine menschlichen Fähigkeiten proiiziere. Durch die Unterwerfung unter dieses Objekt entwickle er das Gefühl, mit seinen eigenen Fähigkeiten wieder in Berührung zu kommen.

 

"Dieser Mechanismus: abgöttische Verehrung aufgrund der Entfremdung des Individuums, ist die zentrale Dynamik der Übertragung; es ist das, was der Übertragung ihre Kraft und Intensität verleiht. (...) Es erübrigt sich hinzuzufügen, dass sich das Phänomen der Übertragung nicht auf die analytische Situation beschränkt. Wir finden es bei allen Formen der Vergötterung von Autoritätsfiguren in Politik, Religion und im gesellschaftlichen Leben." (1962a, GA IX: 72)

 

 

4) Entfremdung von den Produkten der Arbeit

 

Zur Illustrierung der Entfremdung des Menschen von den Produkten seiner Arbeit greift Fromm mit Vorliebe auf Lewis Mumfords Mythos der Maschine (1966/70) zurück, vor allem auf dessen Konzept der "Megamaschine". [79]

 

"Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm (dem Menschen, U. A.) Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht.“ (1973a, GA I: 189)

 

Der Mensch hat in ausserordentlichem Mass seine Naturbeherrschung perfektioniert, wahrend er die gesellschaftlichen Kräfte kaum unter Kontrolle halten kann, so dass die gleiche Haltung der Ohnmacht auch gegenüber dem sozialen und politischen Apparat empfunden wird.

 

"Hand in Hand mit der Rationalität unseres Produktionssystems in seinen technischen Aspekten geht die lrrationalität unseres Produktionssystems in seinen gesellschaftlichen Aspekten. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Kriege bestimmen das Schicksal des Menschen. Der Mensch produziert Autos und Textilien, er erntet Getreide und Früchte. Aber er ist den Erzeugnissen seiner Hände entfremdet, und er beherrscht die Welt nicht mehr, die er gebaut hat. Ganz im Gegenteil ist diese vom Menschen geschaffene Welt zu seinem Herrn geworden, dem er sich beugt, den er zu besänftígen und so gut er kann zu manipulieren versucht. Das Werk seiner Hände ist zu seinem Gott geworden." (1941a, GA I: 286f.)

 

Der Mensch ist nur scheinbar von seinem Selbstinteresse motiviert. In Tat und Wahrheit hat sich sein ganzes Selbst zu einem Werkzeug im Dienste jenes Apparates entwickelt, den er selbst geschaffen hat. Die Illusion, Mittelpunkt der Welt zu sein, wird durch das intensive Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht, wie es frühere Generationen Gott gegenüber empfanden, verdeutlicht.

 

In der Gegenwart wird nicht mehr zwischen Tätigsein und reiner Geschäftigkeit unterschieden, meint Fromm, wobei er sich auf die klassische Trennung von Aktivität und Passivität bei Spinoza bezieht. Diese ist von der heutigen völlig verschieden:

 

"Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Aktivität, der dem ähnelt, den man zwischen 'entfremdeter' und 'nicht entfremdeter' Tätigkeit machen würde. In der entfremdeten Aktivität erlebe ich mich nicht als das tätige Subjekt meines Handelns, sondern erfahre das Resultat meiner Tätigkeit, und zwar als etwas 'da drüben', das von mir getrennt ist und über mir bzw. gegen mich steht. Im Grunde handle nicht ich; innere oder äussere Kräfte handeln durch mich. Ich bin vom Ergebnis meines Tätigseins getrennt worden." (1976a, GA Il: 334)

 

Produktivität im Frommschen Sinne bedeutet, dass der Mensch seine eigenen Kräfte nutzt und die in ihm angelegten Möglichkeiten verwirklicht. Das setzt ein diesen Anlagen förderliches soziales Umfeld voraus.

 

"Produktivität bedeutet, dass er sich selbst als die Verkörperung seiner Kräfte und als 'Akteur' erlebt: dass er slch als Subjekt seiner Kräfte empfindet und dass er diesen Kräften nicht entfremdet ist, das heisst dass er sie nicht mit fremden Masken versieht und auf zu Götzen erhobene Objekte, Personen und lnstitutionen überträgt.

   Man kann die Produktivität auch so beschreiben, dass der produktive Mensch alles, was er anrührt, belebt." (1980a, GA III: 311)

 

Also gilt es, nicht vor dem Werk der eigenen Kräfte niederzuknien und dem Götzendienst zu huldigen, sondern sich seiner eigenen Kräfte zu versichern und seine Unabhängigkeit zu bewahren.

 

 

5) Entfremdung von der Arbeit

 

Im Bereich dieser Entfremdungsweise orientiert sich Fromm sehr stark an der Marxschen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Er zeigt weiter, dass im zwanzigsten Jahrhundert die Entfremdung im Arbeitsbereich schon fast universell geworden ist.

 

"Der Arbeitende ist seiner Arbeit entfremdet. (...) Er verwendet seine beste Energie sieben bis acht Stunden am Tag darauf, 'etwas' herzustellen. Er braucht seine Arbeit, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber er spielt dabei eine im Wesentlichen passive Rolle. Er erfüllt in einem höchst komplizierten und hochorganisierten Produktionsprozess eine kleine, isolierte Funktion und hat nie 'sein' Produkt als Ganzes vor Augen, wenigstens nicht als Hersteller, sondern höchstens als Verbraucher, sofern er das Geld hat, sich 'sein' Erzeugnis im Laden zu kaufen." (1955a, GA IV: 128)

 

Der Arbeiter wird an einen bestimmten Arbeitsplatz gestellt und mit einer eng definierten Aufgabe betraut, ohne dass er an der Organisation oder am Management beteiligt ist. Die Beziehung der von ihm gefertigten Waren zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen ist ihm ebenso unklar wie die Gründe für die Produktion.

 

"Er ist eher ein Bestandteil der Maschine als ihr Herr und tätiger Urheber. Die Maschine steht nicht in seinem Dienst und verrichtet für ihn Arbeiten, die man früher mit seiner eigenen Körperkraft verrichten musste, sondern sie ist zu seinem Herrn und Meister geworden. Nicht die Maschine ist zum Ersatz für die menschliche Energie geworden, sondern der Mensch zum Ersatz für die Maschine. Man kann seine Arbeit definieren als Ausführung von Tätigkeiten, die nicht von den Maschinen ausgeführt werden können." (ebd.) [80]

 

Der entfremdete Charakter der Arbeit bewirkt Unbefriedigtheit und häufig eine unbewusste feindselige Einstellung zur Arbeit. Zudem fördert sie bei vielen die irrige Vorstellung vom menschlichen Ideal vollkommener Faulheit:

 

"Solche Menschen haben daher das Gefühl, ihre Faulheit sei der 'natürliche' Zustand und nicht Symptom einer kranken Lebensbedingung, die das Resultat einer sinnlosen und entfremdeten Arbeit ist. Wenn man die üblichen Meinungen über die Arbeitsmotivation genauer untersucht, so zeigt sich, dass sie von der Konzeption einer entfremdeten Arbeit ausgehen und dass ihre Schlussfolgerungen sich daher nicht auf eine nicht-entfremdete, attraktive Arbeit anwenden lässt.“ (ebd.: 203).

 

Die meisten Menschen nehmen heute aber an, die in unserer Gesellschaft übliche Art der Arbeit, die entfremdete also, sei die einzig mögliche und halten ihre Abneigung dagegen für ein natürliches Phänomen, während sie Geld, Prestige und Macht als Elemente der Arbeitsmotivation anerkennen; die Beobachtung von Kindern oder eigene Lebenserfahrungen könnten uns jedoch vom Gegenteil überzeugen. [81]

 

Abhilfe sieht Fromm in der Beteiligung der Arbeitnehmer an der politischen Führung der privaten Unternehmungen in Form betrieblicher Mitbestimmung:

 

"Er kann nur dann zu einer direkten, interessierten und verantwortungsbewussten Mitbestimmung gelangen, wenn er Einfluss auf die Entscheidungen hat, die seine individuelle Arbeitssituation und das Gesamtunternehmen angehen. Seine Entfremdung von der Arbeit kann nur überwunden werden, wenn er nicht nur Anordnungen entgegen nehmen muss, sondern wenn er als verantwortliches Subjekt Kapital verwendet. Es geht hierbei nicht in erster Linie um den Besitz der Produktionsmittel, sondern um die Beteiligung am Management und an der Beschlussfassung. Wie im politischen Bereich handelt es sich auch hier darum, die Gefahr eines anarchischen Zustandes zu vermeiden, wo es an der zentralen Leitung und Planung fehlt. Aber eine Alternative zwischen einem zentralisierten, autoritären Management und einem planlosen, unkoordinierten Management durch die Arbeiter muss es nicht geben. Die Lösung ist in einer Kombination von Zentralisierung und Dezentralisierung zu suchen, in einer Synthese, bei der sich die Entscheidungen von oben nach unten und von unten nach oben bewegen." (ebd.: 225)

 

Über den einzelnen Betrieb hinaus ist jedoch eine übergeordnete soziale Planung erforderlich, damit vermieden wird, dass die "egoistische, entfremdete Einstellung (...) dann nur vom Einzelnen auf das 'Team' ausgedehnt" (ebd.: 227) wird. Fromm betrachtet als wesentlichen Bestandteil der Mitbestimmung, dass die Arbeiter sich auch für die Mitbeschäftigten im gleichen Industriezweig und für die Verbraucher interessieren und mit ihnen in Kontakt stehen, ohne aber gleichzeitig die Bedürfnisse der Gesamtbevölkerung aus den Augen zu verlieren.

 

Als Voraussetzung für die Überwindung der Entfremdung im Arbeitsbereich sieht Fromm auch, dass "mit der schädlichen Trennung zwischen theoretischem und praktischem Wissen Schluss" (ebd.: 241) gemacht wird, was eine drastische Änderung der Erziehungsmethoden erfordert, indem "von allem Anfang an theoretische Unterweisung und praktische Arbeit miteinander kombiniert" (ebd.) werden. Und so fordert Fromm – nun wieder an Marx anknüpfend – das Ende jeglichen Spezialistentums.

 

"Da das Ziel der menschlichen Entwicklung das der Entwicklung des totalen, universalen Menschen ist, muss der Mensch von dem verkrüppelnden Einfluss der Spezialisierung befreit werden." (1961h, GA V: 366)

 

Denn Fromm hält an der Marxschen Vision fest, dass der Mensch der humanistischen Zukunft "sich in einem jeden beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglichst macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden" (MEGA 1,5: 22).

 

 

6) Weitere Entfremdungsbereiche

 

Entfremdung spielt sich für Fromm in vielen weiteren Lebensbereichen ab: Wichtige Aspekte von Entfremdung sieht er im Bereich des Wissens, in der Sprache und im Denken des modernen Menschen, was er weitgehend mit den seelischen Auswirkungen der Massenproduktion in Verbindung bringt. So weist er darauf hin, dass sich im sprachlichen Ausdruck eine zunehmende Tendenz ausbreitet, von der subjektiven Erfahrung zu abstrahieren, etwa wenn ich sage: "Ich habe ein Problem" statt "Ich bin besorgt".

 

Entfremdung taucht im Bereich der Erinnerung, der Erfahrung, der Gefühle, der Empfindungen und der Wahrnehmung auf. Fromm spricht von der Entfremdung der Liebe, der Hoffnung, der Freude, der Leidenschaften, der Sinne, der Kultur, des Konsums, der Religion und der Ethik, ja selbst die "entfremdete Gewissensberuhigung" wird von Fromm thematisiert.

 

Einige weitere Beispiele sollen jeden noch möglichen Zweifel beseitigen, dass "Entfremdung" bei Fromm ein geradezu allgegenwärtiges Phänomen ist. [82]

 

α) Entfremdung in der Liebe

 

Fromm zeigt auf, dass die Verwendung des Substantivs "Liebe" als reine Abstraktion der Tätigkeit des Liebens Entfremdung zum Ausdruck bringt, da sie das persönliche Erleben auf das Niveau einer allgemeinen Erfahrung hebt und damit entpersönlicht. "Der liebende Mensch wird zum Menschen der Liebe. Liebe wird zur Göttin, zum Idol, auf das der Mensch sein Lieben projiziert: in diesem Entfremdungsprozess hört er auf, Liebe zu erleben, und ist mit seiner Liebesfähigkeit nur noch durch seine Unterwerfung unter die Göttin der Liebe verbunden. Er hat aufgehört, selbst ein fühlender Mensch zu sein; statt dessen ist er zu einem entfremdeten Götzendiener geworden." (1976a, GA II: 288f.)

 

β) Entfremdung im religiösen Glauben

 

Für Fromm ist Entfremdung auch in jeder Religionsform mit einem ganz spezifischen Gottesbild und ganz besonders in der Theologie angelegt, die Gott mit ganz bestimmten Attributen oder ontologischen Bestimmungen versieht und "ihn" dadurch zum Idol erhebt. Deutlich klingt hier die negative Theologie von Moses Maimonides an, ebenso die Religionskritik von Ludwig Feuerbach.  

"Gott, ursprünglich ein Symbol für den höchsten Wert, den wir in unserem Inneren erfahren können, wird in der Existenzweise des Habens zu einem Idol. Das bedeutet im Sinne der Propheten, ein vom Menschen gemachtes Ding, auf das der Mensch seine eigenen Kräfte projiziert und sich selbst dadurch schwächt. Er unterwirft sich also seiner eigenen Schöpfung und erfährt sich selbst durch die Unterwerfung in einer entfremdeten Form. Ich kann das Idol haben, weil es ein Ding ist, doch aufgrund meiner Unterwerfung hat es gleichzeitig mich." (1976a, GA II: 302)

 

Die Existenzweise des Habens im religiösen Bereich gibt jenen eine Krücke in die Hand, die ohne Gewissheit nicht leben können und denen der Mut fehlt, mit eigenen Kräften nach Lebenssinn zu suchen. Religion ist nach Fromm für die Mehrheit der Menschen zu einer Ware, zu einer leeren Symbolhülle, geworden.

 

"Wir bedienen uns der Symbole, die einer echten religiösen Tradition angehören, und verwandeln sie in Formeln, die den Zwecken des entfremdeten Menschen dienen." (1955c, GA V: 269)

 

¥) Entfremdung in der Wirklichkeitserfahrung

 

Für die entfremdete Persönlichkeit ist der Mangel an Wirklichkeitssinn kennzeichnend. Dies zeigt sich für Fromm unter anderem in der von der Mehrheit der Menschen nicht oder kaum wahrgenommenen militärischen Aufrüstung. Eng damit verbunden ist die einseitige Entwicklung der Intelligenz der Menschen auf Kosten ihrer Vernunft:

 

"Wenn man beobachtet, wie ein entfremdeter Mensch denkt, dann fällt einem auf, dass seine Intelligenz sich entwickelt hat, während seine Vernunft an Qualität verloren hat. Er nimmt seine Wirklichkeit als selbstverständlich hin; er möchte sie verzehren, konsumieren, berühren, manipulieren. Er fragt nicht einmal, was dahinter steckt, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und wohin das alles führt. Die Bedeutung kann man nicht essen, den Sinn kann man nicht verkonsumieren, und was die Zukunft betrifft – nach uns die Sintflut!" (1955a, GA IV: 122f.)

 

δ) Entfremdung im Konsum

 

Über Marx' Analyse der Entfremdung hinausgehend, sieht Fromm Entfremdung auch im Konsumbereich, wo ein eigentlicher Teufelskreis auszumachen ist:

 

"Der ängstliche, entfremdete Mensch muss auf der einen Seite zwanghaft konsumieren, weil er ängstlich ist. Auf der andern Seite hängt das Problem sehr eng mit der ökonomischen Struktur des modernen westlichen Gesellschaft zusammen, die ökonomisch auf der Tatsache der vollendeten, absoluten und immer wachsenden Konsums beruht." (1970j, GA V: 319)

 

Diese Beispiele zeigen, dass Entfremdung in den Industrieländern in allen Lebensbereichen auftritt, ganz unabhängig von der Besonderheit des politischen oder wirtschaftlichen Systems der jeweiligen Nationen. Sie ist das eigentliche Merkmal der diagnostizierten "Pathologie der Normalität". Dies erhellt auch das folgende Zitat:

 

"Das Untätigsein des Menschen in der heutigen Industriegesellschaft ist einer seiner besonders charakteristischen pathologischen Züge. Er nimmt alles in sich auf, er will gefüttert werden, aber er bewegt sich nicht, er leitet nichts in die Wege, gewissermassen verdaut er seine Nahrung nicht. Das Untätigsein des Menschen ist nur ein Symptom eines Gesamtsyndroms, das man als 'Entfremdungssyndrom' bezeichnen könnte. Da er untätig ist, tritt er nicht aktiv mit der Welt in Beziehung und sieht sich gezwungen, sich seinen Götzen und deren Forderungen zu unterwerfen. Daher fühlt er sich machtlos, einsam und angsterfüllt. Er besitzt kaum ein Gefühl der Integrität oder der Identität mit sich selbst. Konformität erscheint ihm als die einzige Möglichkeit, eine unerträgliche Angst zu vermeiden – und selbst die Konformität erleichtert ihm nicht immer seine Angst." (1968a, GA IV: 289, meine Hervorh.)

 

Der Mensch ist für Fromm nur in dem Masse lebendig, in dem er interessiert und aktiv tätig ist. Die moderne Gesellschaft bewirkt eine tiefe Identitätskrise, die auf der wachsenden Verdinglichung und Entfremdung ihrer Mitglieder beruht. Ihr ist nur mit radikalen Mitteln beizukommen:

 

"Es gibt kein psychologisches Abkürzungsverfahren für die Überwindung der ldentitätskrise; sie ist nur durch die fundamentale Umwandlung des entfremdeten Menschen in einen lebendigen Menschen zu überwinden." (ebd.: 323)

 

Ein Weiterverfolgen der analytischen Zuordnung der verschiedenen Entfremdungspassagen ist meines Erachtens nicht sinnvoll, da Fromm "Entfremdung" als ein universelles Phänomen versteht, das in alle Lebensbereiche eindringt und eine prinzipielle Umkehr nötig macht. Fruchtbarer muss die Frage nach der historischen Relevanz der menschlichen Entfremdung sein, womit die Frage nach der "Eigentlichkeit", der "Authentizität", der "Heimat" des Menschen eng verknüpft ist. [83]