Beschluss

Fromms Geschichtsphilosophie liegt der Gedanke zugrunde, dass der Mensch im Laufe der Gattungsentwicklung seiner grundsätzlichen Freiheit, verstanden als Bewusstsein seines Herausgefallenseins aus den natürlichen, durch Instinkte geprägten Daseinsbedingungen bewusst wird und sich auf den Weg macht, um einen künftigen Zustand bewusster Einheit mit der Natur, und das bedeutet auch mit sich und seinen Mitmenschen, zu erreichen, in einer utopischen Zukunftsgesellschaft, deren politische Grundstruktur Fromm "Sozialistischen Humanismus" nennt. In ihr sollen die primären menschlichen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung kommen, an denen Fromm die bisherigen Geschichtsepochen misst und die ihm auch den Massstab für seine Gesellschafts- und Zivilisationskritik liefern.

Es ist die Geschichte der menschlichen Selbsterlösung, die Fromm anhand seiner Interpretation der jüdischen Religionsgeschichte entfaltet, eine Entwicklung von der Vertreibung des Urelternpaares aus dem Paradies (Naturharmonie aufgrund des fehlenden Bewusstseins des Menschen von sich selbst) über verschiedene Phasen der Menschheitsentwicklung mit den wichtigsten Stationen des Matriarchats, des Patriarchats und des Sozialismus (Hegels Triade von Vergegenständlichung, Entfremdung und Zu-sich-Kommen).

Es handelt sich also zweifellos um eine in der Rezeption Hegelscher Grundgedanken ausgeformte Geschichtsmetaphysik, deren treibende Kraft Fromm ins Innerseelische umwendet.

Fromms Geschichtsbild stehe ich ablehnend gegenüber. Meine Vorbehalte möchte ich aus den folgenden vier Gesichtspunkten heraus anbringen, mit denen ich mich in den Hauptzügen identifiziere und deren Ansätze ich im Folgenden kurz darlegen will:

a)    Kritik aus der Sicht von Camus' Erkenntnis der absurden Grundsituation des Menschen
b)    Kritik aus der Sicht von Horkheimers Ablehnung jeglicher Geschichtsmetaphysik
c)    Kritik aus der Sicht von Kołakowskis Mythosverständnis
d)    Kritik aus der Sicht von Künzlis Postulat der Rationalität eines demokratischen Sozialismus


a) Kritik aus der Sicht von Camus' Erkenntnis der absurden Grundsituation des Menschen

Das Fromms Denken zugrunde liegende Konzept einer im Mensch angelegten Einheit, die nach dem Bruch mit seiner Naturhaftigkeit geschichtlich-normativ wiederherzustellen ist, steht im völligen Widerspruch zu Camus' Weltverständnis, rettet es doch die letztgültige Intelligibiltät menschlichen Daseins und vermittelt den Schein einer grundsätzlich sinnhaften Existenz von Mensch und Natur.

"Eine Welt, die erklärbar ist – selbst mit schlechten Gründen, ist eine vertraute Welt. Umgekehrt fühlt sich der Mensch in einem Universum, das mit einem Mal seiner Illusionen und seines Lichts beraubt ist, als Fremder. Dieses Exil ist ohne Zuflucht, ist es doch der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein verheissenes Land entledigt. Diese Kluft zwischen dem Menschen und seinem Leben, des Akteurs von seiner Bühne, macht recht eigentlich das Gefühl der Absurdität aus." (1942: 20; meine Übers.) [186]

Die Erkenntnis der Fremdheit ergibt sich bei der Entdeckung, dass die Welt "dicht" ist, im Innewerden, mit welcher Kraft uns die Natur verneint.

"Nur das eine: Diese Geschlossenheit und diese Fremdheit der Welt ist das Absurde." (ebd.: 31; meine Übers.) [187]

Der Fremdheit des Universums steht die menschliche Sehnsucht nach Verständnis, Vertrautheit und Sinn entgegen. In dieser Nostalgie nach Einheit des Seins, in diesem Hunger nach dem Absoluten sieht Camus die eigentliche Bedeutung der menschlichen Existenz, den Rahmen für das menschliche Drama.

"Wenn der Mensch entdeckte, dass auch das Universum lieben und leiden kann, so wäre er versöhnt. Wenn das Denken in den wechselnden Spiegelbildern der Phänomene ewige Beziehungen aufspürte, die sie zusammenhalten und sie selbst zusammenhielten, so könnten wir von einem geistigen Glück sprechen, dem gegenüber dem Mythos von den Glückseligen nur eine lächerliche Nachahmung wäre." (ebd.: 34; meine Übers.) [188]

Der Graben zwischen der Gewissheit, die ich von meiner Existenz habe und dem Inhalt, den ich dieser Versicherung gebe, ist nicht überbrückbar. Der Mensch bleibt sich selbst letztlich immer fremd. In der Psychologie wie in der Logik gibt es somit nur Wahrheiten, keine Wahrheit, was ja auch Sokrates mit seinem Diktum "Erkenne dich selbst" zum Ausdruck gebracht habe.

"Diese Welt ist an sich nicht vernünftig. Das ist alles, was man sagen kann. Absurd ist hingegen das Aufeinandertreffen dieses Irrationalen und dieser heftigen Sehnsucht nach Klarheit, deren Ruf im Innersten des Menschen widerhallt." (ebd.: 39; meine Übers.) [189]

Die Irrationalität der Welt, die menschliche Sehnsucht und das daraus entstehende Absurde sind die Elemente des Dramas der menschlichen Existenz; von ihnen hängt die Konsequenz des menschlichen Lebens ab.

Das Absurde ist weder im Menschen noch in der Welt angelegt, sondern konstituiert sich aus ihrer gemeinsamen Existenz. Der dieser Erkenntnis verbundene Mensch darf keine Sekunde lang das Bewusstsein davon verlieren, sonst läuft er Gefahr, mit einem "Sprung" in den illusionären Bereich der Sinnhaftigkeit von Welt und Existenz einzutreten. Solche Sprünge sieht Camus in der theologischen Tradition und letztlich auch bei den Existenzialisten (etwa bei Kierkegaard, Kafka, Dostojewski) verwirklicht. Der Fehler – der "philosophische Selbstmord" – besteht darin, der Welt ein grosses einigendes Prinzip zu unterstellen, das der Mensch erkennen könne.

"Ich weiss nicht, ob diese Welt einen sie transzendierenden Sinn hat. Aber ich weiss, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass es mir gegenwärtig unmöglich ist, ihn zu erkennen. Was bedeutet mir ein Sinn ausserhalb meiner Daseinsbedingungen? Was ich berühren kann, was mir widersteht, das kann ich verstehen. Und von diesen beiden Gewissheiten – meinem grenzenlosen Hunger nach Einheit und der Unmöglichkeit, diese Welt auf ein vernünftiges Prinzip zurückzuführen –, weiss ich auch, dass ich sie nicht miteinander versöhnen kann." (ebd.: 75f.: meine Übers.) [190]

Denken heisst für Camus vor allem eine Welt schaffen, oder – gleichbedeutend – seine Welt zu begrenzen. Es bedeutet auch, eine Verständigungsebene zu finden, die der menschlichen Sehnsucht entspricht, sich ein Universum vorzustellen, das durch Vernunftgründe zusammengehalten und durch Analogien erhellt wird.

"Der Philosoph ist ein Schöpfer, selbst wenn er Kant heisst. Er hat seine Personen, seine Symbole und seine geheime Handlung." (ebd.: 136: meine Übers.) [191]

Eine Ethik begründen will Camus nicht von einem metaphysischen Prinzip her, auch nicht vom Gedanken der prinzipiellen Einheit alles Menschlichen, sondern aus der gemeinschaftlichen Erfahrung der Revolte gegen das "Schweigen", gegen die "Gleichgültigkeit" der Welt.

"Die Solidarität der Menschen ist auf der Bewegung der Revolte begründet, und diese findet ihrerseits ihre Rechtfertigung nur in dieser Komplizenschaft. Ebenso entsteht diese Solidarität nur ausserhalb des Geheiligten, wird nur auf der Ebene der Revolte zum Leben erweckt. Das wirkllche Drama des Denkens in der Revolte kündigt sich so an. Um zu sein, muss der Mensch sich auflehnen, aber seine Revolte muss die Grenze respektieren, die sie in sich selbst entdeckt und wo die Menschen in ihrer Vereinigung zu sein beginnen. Das Denken in der Revolte kann daher das Gedächtnis nicht entbehren: es ist eine ständige Anspannung." (1951: 35, meine Übers.) [192]

In der absurden Erfahrung ist das Leiden individuell. Von dem Moment an, da die Revolte einsetzt, wird sie zum Abenteuer aller. Die erste Errungenschaft eines Geistes, der von der Fremdheit erfasst wird, besteht daher in der Erkenntnis, dass er diese mit allen Menschen teilt und dass der Mensch in seinem Lebensvollzug an dieser Kluft zwischen sich und der Welt leidet.

"Das Böse, das der Einzelne empfand, wird zur kollektiven Pest. In den Heimsuchungen unseres Alltags spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das 'Cogito' in der Philosophie, sie ist die erste Gewissheit. Aber diese Gewissheit befreit das Individuum von seiner Einsamkeit. Sie ist ein gemeinsamer Ort, der für alle Menschen den ersten Wert begründet. Ich lehne mich auf, also sind wir." (1951: 36: meine Übers.) [193]

Fromm geht wie Camus vom Gedanken der Fremdheit, der Entfremdung aus, aber seine Geschichtsphi1osophie hält sich nicht auf der Höhe dieser Erkenntnis. Die Vorstellung eines historisch erreichbaren, im Kern bereits angelegten "messianischen Zeitalters" setzt eine keimhaft in der menschlichen Seele angelegte Struktur voraus, die als Mythos (im sinnstiftenden Sinne Kołakowskis) auszuweisen ist.

Auch Fromm macht den von Camus abgelehnten Sprung in die Sinnhaftigkeit der Existenz. Während er die Fremdheit und Gleichgültigkeit der Natur aufrecht erhält, legt er den Sinn als Potenzialität in die menschliche Natur und ihre Aktualisierung in die Geschichte. Das entelechische Prinzip der Selbstschaffung des Menschen gibt jedem Einzelnen und jeder Epoche einen prinzipiellen Bedeutungsgehalt, den ich als spekulatives philosophisches Element zurückweise. Ein solcher Ansatz bricht die Absurdität menschlichen Daseins, wie es von Camus überzeugend dargestellt wird, in unzulässiger Weise auf.


b) Kritik aus der Sicht von Horkheimers Ablehnung jeglicher Geschichtsmetaphysik

Horkheimer erscheint es grundsätzlich unmöglich, eine Erkenntnistheorie zu begründen, die ein für allemal über die Subjekt-Objekt-Relation, das Verhältnis des Menschen zur "Welt", urteilen kann, ganz unabhängig vom realen Weltlauf.

"Weder ist die Realität ein kompaktes Ding, noch das Bewusstsein ein blanker Spiegel, der im Sinne der Aufklärung von verständnislosem oder frevelhaftem Hauch getrübt oder durch Wissende gereinigt werden könnte, sondern die gesamte Wirklichkeit ist identisch mit dem Lebensprozess der Menschheit, in dem weder die Natur, noch die Gesellschaft, noch ihre Beziehung unverändert bleiben." (1930: 55)

"Seit der Zeit der primitiven Jäger und Fischer sind die zur Erhaltung und Fortsetzung des Daseins notwendigen Lebensfunktionen nicht mehr in den einzelnen Personen selbst vereinigt, sondern in verschiedenen Gruppen innerhalb der Gesellschaft aufgeteilt. Damit hat sich aber notwendig auch alles geistige Leben differenziert und in sich Gegensätze entwickelt. Eine einheitliche Ideengeschichte von Kunst, Philosophie und Wissenschaft, die grosse Zeiträume umspannt und sich dabei auf rein geistige Entwicklungszüge beschränkt, ist daher Konstruktion." (ebd.: 55f.)

Die Lehre von der geschichtlichen Bedingtheit geistiger Inhalte führe jedoch nicht zum historischen Relativismus, denn Bedingtheit eines Satzes und Ideologie seien zwei verschiedene Dinge.

"Das Vertrauen auf strenqes und gewissenhaftes Denken und das Wissen um die Bedingtheit von Inhalt und Struktur der Erkenntnisse schliesst sich nicht aus, sondern gehört notwendig zusammen. Dass die Vernunft ihrer Ewigkeit nie gewisssein kann, dass die Erkenntnis zwar einer Zeit gemäss, aber zu keiner Zeit für geschichtliche Zukunft gesichert ist, ja dass der Vorbehalt der zeitlichen Abhängigkeit sogar noch die Erkenntnis betrifft, die sie feststellt – dieses Paradoxon hebt die Wahrheit dieser Behauptung selbst nicht auf, sondern es liegt gerade im Wesen der echten Erkenntnis, niemals abgeschlossen zu sein. Vielleicht ist das die tiefste Bedeutung aller dialektischen Philosophie." (ebd. : 57)

Die Geschichte in ihren Grundgesetzlichkeiten interpretieren zu wollen, erscheint Horkheimer als Ausdruck des Vertrauens der bürgerlichen Gesellschaft in ihre Organisationsform.

"Wo die Geschichtsphilosophie noch den Gedanken an einen dunklen, aber selbstfindig und eigenmächtig wirkenden Sinn der Geschichte enthält, den man in Schematen, logischen Konstruktionen und Systemen nachzuzeichnen versucht, ist ihr entgegenzuhalten, dass es gerade so viel Sinn und Vernunft auf der Welt gibt, als die Menschen in ihr verwirklichen." (ebd.: 83) 

Dieses Unterfangen ist bei Fromm klar nachweisbar. Der Einfluss der Hegelschen Geschichtsphilosophie auf sein messianisches Weltbild ist unübersehbar, wenn auch zuzugestehen ist, dass bei Fromm die Einheit von Denken und Sein aus dem ontologischen Bereich zurückgenommen und dann auf das sozialpsychologische, zugleich normativ überhöhte Feld übertragen wird. Doch Horkheimer meint:

"Wenig verschlägt es, ob die Einheit, mit der die Metaphysik es zu tun hat, als werdend oder seiend aufgefasst wird; bei allem Unterschied der Verfeinerung und Vertiefung hängen diese Meinungen an der gleichen dogmatischen Voraussetzung." (1932: 90)

Als Metaphysik bezeichnet Horkheimer allgemein den Ansatz, die einzelnen Elemente des geschichtlichen Verlaufes aus dem Gedanken einer höheren Einheit abzuleiten. Das einzelne Moment wird nicht mehr als gegebenes Ereignis begriffen, das in seiner begrifflichen Verbindung jeweils auch subjektiv bedingt ist, sondern als Glied eines in sich geschlossenen Ganzen mit einer inneren Logik, eigener Vernunft und eigenem Sinn.

"Unbefriedigt von der Zerstreutheit und Begrenztheit der wenigen sinnvoll zu nennenden Bezirke in der erfahrbaren Welt und vom Charakter der Naturgesetze ist die Metaphysik von einer selbständigen allgemeinen Seinsordnung überzeugt. Aus ihr, mag sie im Übrigen statisch oder dynamisch verstanden werden, soll die stückhafte Mannigfaltigkeit, von der wir wissen, nicht bloss als aus einem brauchbaren Gesichtspunkt erfasst, sondern als aus dem unabhängigen Urgrund der Welt einsichtig gemacht werden, und wäre es nur, indem sie in ihrer Gesamtheit als zufällige Erscheinung an der Idee jener Ordnung gemessen wird. Diese Überzeugung ist auch dort massgebend, wo die Erkenntnis des Seinsgrundes als Entwicklungsgang angesehen oder ans Ende der Zeiten verlegt wird. Überall, wo sie ausgesprochen oder unausgesprochen das Denken beherrscht, vor allem, wo gleichsam selbstverständlich ein derartiges Ziel als höchste Triebfeder aller Bemühungen um Erkenntnis gilt und die Richtung der Untersuchung oder auch nur die Färbung der Begriffe beeinflusst, wird hier von einer metaphysischen Rücksicht gesprochen." (ebd.: 91)

Mit der Metaphysik ist nach Horkheimer die Geistesphilosophie in dem Sinne unhaltbar geworden, dass sie die Tatsachen des geschichtlichen Fortschreitens als Ausdruck eines geistigen Prozesses nimmt, auch wenn er "dialektisch" verstanden wird.

"Vom Geschichtsverlauf als von einer wesentlich geistigen Auseinandersetzung zu sprechen, heisst nicht bloss ihn verklären, sondern enthält auch unmittelbar das Bekenntnis zur Identität. Der Geist ist das wahrhaft Wirkliche, das Wesen, die Substanz." (ebd.: 95)

Dem stellt Horkheimer das Postulat einer empirischen Geschichtsschreibung entgegen, welche die geschichtlichen Ereignisse als Ergebnis verschiedenartiger Konstellationen sieht; das solle nicht grundsätzlich daran hindern, sie unter möglichst wenige Begriffe zu fassen und sie darstellend aus diesen zu entwickeln und sie darstellend aus diesen zu entwickeln. Im Widerspruch dazu stehe ein Glaube, die Tatsachen würden durch eine unabhängige geistige Kraft geschaffen, und jeder Versuch, die wissenschaftliche Arbeit dem Ziel unterzuordnen, dieses Wesen zu erkennen.

"Die empirische Forschung geschichtlicher Vorgänge ist auf möglichst treffende Beschreibung und letzten Endes auf die Erkenntnis von Gesetzen und Tendenzen gerichtet, ganz ebenso wie die Forschung auf dem Gebiet der aussermenschlichen Natur: der Gedanke an ein zugrundeliegendes geistiges Prinzip, das notwendig höchst abstrakt sein müsste, ist ihr ganz fremd." (ebd.: 95)

Eine solche Forschungsweise müsse sich jedoch auch vor der Skepsis als einer krankhaften Art intellektueller Unabhängigkeit hüten, die gegen Wahrheit und Unwahrheit immun sei. Ein Humanismus sei nicht zu begründen aus der Diskrepanz zu einer überzeitlichen Idee des vollen Menschseins.

"Der Humanismus der Vergangenheit bestand in der Kritik der feudalistischen Weltordnung mit ihrer Hierarchie, die zur Fessel der Entfaltung des Menschen geworden war. Der Humanismus der Gegenwart besteht in der Kritik der Lebensformen, unter denen die Menschen jetzt zugrunde gehen, und in der Anstrenqunq, in vernünftigem Sinn zu verändern." (1938: 140f.)

Anliegen einer kritischen Theorie müsse es daher sein, sich für die Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts einzusetzen und die Herstellung eines gerechten Zustandes unter den Menschen anzustreben, indem sie diese als Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand nimmt, sich also auf keinen Fall von der ökonomischen Analyse ablöst.

"(...) die Kritik des Ökonomismus liegt nicht in der Abkehr von ökonomischer Analyse, sondern darin, auf ihre Vollständigkeit und historisch angezeigte Richtunq zu dringen. Die dialektische Theorie übt keine Kritik aus der blossen Idee. Schon in ihrer idealistischen Gestalt hat sie die Vorstellung von einem an sich Guten, das der Wirklichkeit bloss entgegengehalten wird, verworfen. Sie urteilt nicht nach dem, was über der Zeit, sondern nach dem, was an der Zeit ist." (1937: 208)

Der metaphysische Glaube, dass die Gestaltung des individuellen Menschen aus dem zu entdeckenden Sein zu begründen ist, sei in den eigentlich theologischen Systemen am klarsten ausgedrückt. Denn Gott könne eine bestimmte Verhaltensweise von den Menschen verlangen, und die ihr Widerstrebenden verfielen der Sünde.

"Die über ihr Verhältnis zur Theologie unklare Metaphysik pflegt die Übereinstimmung des individuellen Lebens mit den Forderungen des Absoluten nicht als Gehorsam, sondern als Angemessenheit, Echtheit, Eigentlichkeit oder überhaupt als philosophische Weisheit anzusehen." (1933: 71)

Die ethische Maxime bestehe unter solchen Voraussetzungen darin, das eigene Sein in der primär wertbehafteten Eigentlichkeit zu bewahren oder zu dem zu werden, was man "ist".

Soweit jene idealistische Strömungen das Unbedingte nicht als Sein, sondern als Gesetzgebung, Tathandlung oder doch als Inbegriff von freien Akten entdecken, fordern sie zugleich Achtung von dem Sinn dieser Akte, eine Anpassung des empirischen Menschenlebens an den intelligiblen Grund der Persönlichkeit, bis zu dem die Philosophie vorstösst. Aber nicht bloss dort, wo der religiöse Ursprung des Abhängigkeitsverhältnisses noch in der Befehlsform bewahrt ist, sondern auch in allen Fällen, wo überhaupt die Übereinstimmung eines Daseins mit seinem in der Metaphysik entdeckten Grund für wertvoll gehalten wird, gilt die zugrunde liegende Wirklichkeit als normativ." (1933: 72)

Diese im Wesentlichen gegen Hegel und die Denker in dessen Nachfolge gerichtete Kritik trifft nahtlos auf Fromms Geschichtsphilosophie zu und verdeutlicht die idealistische Wendung seines Denkens, die seinem Ausscheiden aus Horkheimers Institut für Sozialforschung vorangeganqen war. Allerdings ist zu beachten, dass Fromms Gedanke der Eigentlichkeit sich nicht auf einer kosmologischen Ontologie begründet, sondern auf einer normativen, innerseelischen, sozialpsychologisch orientierten.

Dennoch lehne ich Fromms geschichtsphilosophischen Ansatz als einen letztlich metaphysischen ab und stimme mit Horkheimer überein, der in diesem Zusammenhang meint:

"Die Gesellschaft, von der das Sein des Menschen abhängt, ist ein unvergleichbares, sich fortwährend umstrukturierendes Ganzes, und die Ähnlichkeit menschlicher Züge in den bisherigen Geschichtsepochen ermöglicht zwar sehr wohl Begriffsbildungen, die für das Verständnis gegenwärtiger sozialer Bewegungen entscheidend sind, gestattet aber keineswegs, sie als Grund der Gesamtgeschichte zu deuten." (ebd.: 77f.)

Dagegen ist eine Geschichtsbetrachtung anzustreben, welche die geschichtlichen Ereignisse nicht im Sinne einer stufenden Wertung auf ein absolutes Ziel hin versteht, sondern sich von der Hypostasierung von Erkenntnissen aufgrund der These eines erfüllten oder zu erfüllenden Sinnes oder Seins befreit, die sich anderseits in ihrem Erkenntnisanspruch an aufklärerische, emanzipative sozialpolitische Ziele bindet. Ein hervorragendes Beispiel für diesen Ansatz hat Horkheimer mit seiner Dialektik der Aufklarung gegeben, der ich ein letztes Zitat entnehme:

"Aufklärung ist mehr als Aufklärung, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird. In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur ruft wie in der Vorzeit Natur sich selbst an, aber nicht mehr unmittelbar mit ihrem vermeintlichen Namen, der die Allmacht bedeutet, sondern als Blindes, Verstümmeltes." (1985: 39)

 

c) Kritik aus der Sicht von Kołakowskis Mythosverständnis

Das menschliche Bedürfnis, Antworten auf letzte, das heisst metaphysische Fragen zu geben, also auf solche, die nicht in wissenschaftliche Fragen umgewandelt werden können und daher das Bedürfnis nach dem Mythos aktualisieren, lässt sich nach Leszek Kołakowski mindestens in dreifacher Weise beantworten:

1. als Bedürfnis nach verstehender Erfassung der empirischen Realität;
2. als Bedürfnis, an die Beständigkeit der menschlichen Werte zu glauben;
3. als Bedürfnis, die Welt als eine kontinuierliche, dem Wandel entzogene zu sehen.

Kołakowski entdeckt in diesen drei Grundbedürfnissen als gemeinsames Motiv das Verlangen nach Stilllegung der physikalischen Zeit. Diese wird mit der mythischen Zeitform überdeckt, so dass im Vorüberfliessen der Dinge nicht nur die Umwandlung, sondern auch die Kumulation zu sehen ist. Das Vergangene erhält sich wertmässig, da die Fakten nicht einfach nur Fakten sind, sondern auch "Bausteine einer Welt der Werte", die dann unabhängig von der Unumkehrbarkeit der Ereignisse gerettet werden kann.

"Der Glaube an die zweckmässige Ordnung, die im Erfahrungsstrom verborgen ist, gibt uns das Recht zu der Annahme, dass im Vergänglichen etwas wachse und erhalten bleibe, was eben nicht vergänglich sei: dass sich in der Unbeständigkeit der Geschehnisse ein nicht direkt sichtbarer Sinn akkumuliere, dass also nur die sichtbare Schicht des Daseins von Zerfall und Zerstörung betroffen werde, nicht aber die zweite, die dem Ruin standhält. Eine nämliche Überwindung der Zeitlichkeit wird in den Mythen wirksam, die den Glauben an die Dauerhaftigkeit der personalen Werte ermöglichen; auch hier können Vergehen und Untergang als Schicksal der phänomenalen Schicht des Menschen gelten, die jedoch aus der Perspektive des Mythos zu Etappen des Wachstums von Werten werden." (1973: 17)

In allen Fällen von Bedürfnissituationen, die Mythen auslösen, geht es also um dasselbe: um das Vermeiden des Einverständnisses mit dem Reich des Zufalls, das sich jedesmal in der unbeständigen Situation erschöpft, die Verweigerung gegenüber den Phänomenen, die das sind, was sie jetzt sind, und auf nichts anderes mehr verweisen — das Bedürfnis nach Transzendenz, wie Fromm sagen würde.

In der Marxschen Philosophie sieht Kołakowski eine Version der Negierung der Erkenntnisfrage; sie zeige auf, dass der Mensch nicht den Standpunkt des übermenschlichen Beobachters seiner selbst einnehmen könne, ohne in einen Zirkel zu geraten. Die eigene Wahrnehmung könne nicht als Bruchstück der allgemeinen Evolution begriffen werden.

"Die Dinge erscheinen dem Menschen aus der Perspektive der praktischen Bemühung als Werte, als Dinge, die auf eine Bestimmung gerichtet sind. Das Bewusstsein ist ein mit Selbstgewissheit ausgestattetes Sein, und die Natur der Gegenpol (das Korrelat) kollektiver Produktionsanstrengung. Objekt und Subjekt sind nur als Glieder einer Opposition bekannt, wechselseitig aufeinander bezogen. Es gibt keine unhistorische Sicht auf die Geschichte, es gibt keine Wahrheit, die frei wäre von der Situation ihrer Assimilation, das heisst die nicht mit dem parteiischen Schaffen der Gattung verknüpft wäre. Der Mensch kann die Erkenntnis nicht an einem vormenschlichen Startpunkt zünden, der einen Nullwert besässe, er ist für sich ein unausweichlicher endgültiger Ausgangspunkt." (1973: 22f.)

Des Abwerfen der eigenen Haut ist für den Menschen eine trügerische Hoffnung. Die Welt ist immer nur als eine mit Sinn ausgestattete gegeben, und dieser Sinn ist das Werk des praktischen menschlichen Entwurfes. Die vormenschliche Welt kann dem Menschen nicht bekannt sein in ihrer nicht-situativen Bezogenheit auf den menschlichen Entwurf.

Aus dieser Sicht verlieren das metaphysische Problem und die Erkenntnisfrage mit einem Mal ihre Gültigkeit. "Wenn die philosophische Kritik somit die traditionelle Frage nach dem Gegebensein des Dinges 'ausserhalb' der Wahrnehmung als eine Frage annulliert, die sich nicht entscheiden oder eigentlich nicht korrekt formulieren lässt, so kann sie jedoch nicht das Bedürfnis abschaffen, das in dieser Frage lebendig ist. Präsent nämlich ist das Bedürfnis, über ein gedankliches Werkzeug zu verfügen, das auf die 'Existenz' im unbedingten Sinne gerichtet wäre (das heisst eine Existenz, die nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Klasse zurückzuführen wäre), und jede Befriedigung dieses Bedürfnisses ist eine mythenbildende Arbeit. Die Philosophie, die das Resultat der Kritik nicht zur Kenntnis nehmen will, die an dem Erkenntnisproblem geübt worden ist, bürdet sich selbst mythenbildende Werke auf." (ebd.: 30f.)

Unsere Kultur komme ohne mythische Entscheidungen des Erkenntnisproblems nicht aus. Der solipsistische Standpunkt wäre zwar logisch zulässig, sei aber kulturell gesehen längst tot, genauso tot wie die Option für die gängige wissenschaftliche Vernunft, die nur auf den Grundsatz der Erfahrung Bezug nimmt.

Kołakowski nennt jede Erfahrung mythisch,

" (...) die nicht nur in dem Sinn die endliche Erfahrung transzendiert, dass sie nicht deren Beschreibung ist (denn in diesem Sinn überschreitet jede Hypothese die Erfahrung), sondern auch in jenem, dass sie die mögliche Erfahrung relativiert, indem sie diese verstehend auf Realitäten bezieht, die grundsätzlich ungeeignet sind, durch Worte beschrieben zu werden, die eine logische Bindung mit der verbalen Beschreibung der Erfahrung eingehen. (...)

"Die Welt der Werte ist eine mythische Realität Die Bestandteile der Erfahrung, die Situationen und Dinge erleben wir, sofern wir sie als mit valenten Qualitäten ausgestattete erleben, als an der Realität teilhabende, die die Ganzheit möglicher Erfahrung in absoluter Weise transzendiert." (1973: 41)

Kołakowski hält das mythische Bewusstsein für allgegenwärtig, auch wenn es oft nicht deutlich in Erscheinung tritt. Da es in jedem mit Werten ausgestatteten Weltverständnis seine Spuren hinterlässt, ist es auch in jedem Geschichtsverständnis präsent.

"Die Geschichte als sinnvolle verstehen oder sie ganz einfach verstehen, bedeutet so viel wie: die Ereignisse auf etwas beziehen können, das entweder eine zweckmässig verknüpfte Ordnung der Geschichte ist oder auf etwas, das, wenn nicht Ziel, so doch die Berufung des Menschen in der Geschichte ist. (...)

   Die Sinnhaftigkeit eines Ereignisses zeigt sich somit nicht in seinen Bedingungen (den aussermenschlichen oder motivationsmässigen), sondern darin, dass das Ereignis auf ein Ziel bezogen werden kann, auf das sich der historische Prozess hinbewegt (nämlich als Beitrag zu einer Annäherung an dieses Ziel oder zu einer Entfremdung vom selben), oder auf die Berufung des Menschen, die sich in der Geschichte aktualisiert oder einer Aktualisierung bedarf." (1973: 45f.)

Genau dies finden wir in Fromms Geschichtsphilosophie vor. Es geht um die Aktualisierung des innersten Wesenskerns des Menschen, um die Erkenntnis seiner Grundtendenz im Prozess der menschlichen Selbsterschaffung, auch wenn Fromms Konzept weit weg ist von der Vorstellung einer statisch verstandenen Wesenhaftigkeit des Menschen.

Verfolgen wir Kołakowskis Gedanken zu Ende:

"Das Ziel verlangt im strikten Wortsinn nach einer Absicht, das heisst nach einem bewussten Entwurf einer vorhistorischen Vorsehung. Die Gegenwärtigkeit der Berufung oder der Potenz, die ihre Rechte zurückfordert oder auch die empirische Existenz anstrebt, bedarf keines Entwurfs der Vorsehung. Sie bedarf jedoch einer mythischen Berufungsinstanz, die jeglicher Historizität vorangeht und diese relativiert, sie verlangt demnach, dass das Ereignis als ein mit der menschlichen Berufung übereinstimmendes verstanden wird. Die Berufung des Menschen ist jedoch keine im historischen Material gegenwärtige Realität oder Hypothese, die aus dem Sammeln dieses Materials hervorgehen könnte. Sie ist eine Regel für das Verstehen der Ereignisse, und eine solche Regel ist in diesem Masse legitim, in dem das ausserzeitliche Ensemble von Ansprüchen, die das Menschsein mitbestimmen, jeglichem menschlichen, historischen Schicksal vorangeht." (1973: 46)

Nur unter der Bedingung, dass wir diese Regel akzeptieren, sagt Kołakowski, können wir sinnvoll von unmenschlichen Situationen und der Notwendigkeit ihrer Überwindung sprechen.

"Nur unter dieser Bedingung dürfen wir behaupten, dass wir wissen, was Worte wie: Befreiung des Menschen, Untergang des Menschen, Entfremdung des Menschen bedeuten. Nur unter dieser Bedingung haben wir das Recht zu verlangen, dass der Mensch sich selbst wiederfinde, oder für ihn Freiheit, Zufriedenheit, Verwirklichung einzufordern." (ebd.)

Aus empirischer Sicht erscheint die Geschichte "geschlossen", sie beinhaltet keinen Rechtfertigungsgrund, kraft dessen etwas für die Menschlichkeit oder in ihrem Namen zurückzuverlangen wäre (vgl. auch das Motto meiner Arbeit von Kołakowski).

Jeder der Geschichte gegenüber erhobene Anspruch muss als unbegründet oder im Mythos begründet, das heisst in dem Menschsein gesehen werden, das der Geschichte vorangeht.

"Deshalb vollzieht sich auch durch den in uns gegenwärtigen Mythos das, was sich vollzieht, deshalb erneuert unser praktisches Sein in der Geschichte in jedem Augenblick seine Energie aus der Wurzel des Mythos. Dank seiner nehmen wir uns das Recht, den Ereignissen einen Sinn zu verleihen, und ein Stimmrecht für oder gegen etwas aus dem Kreis des Geschehen.

   Und wenn der Mythos eine sekundäre Projektion unserer praktischen Absicht ist, die diese Absicht absichern und rechtfertigen soll, so können wir ihn, wenn wir sicher wären, dass er eine solche Projektion ist, nicht annehmen. Mit dem Augenblick, von dem an wir es wissen oder zu wissen meinen, wird uns das Stimmrecht und das Recht, den Ereignissen Sinn zu verleihen, entzogen. Daher verlangt die faktische Geschichte nach dem Mythos, daher lässt die Philosophie den Mythos erstehen, daher haben wir nicht das Recht, uns als die alleinigen Schöpfer des Mythos zu betrachten, sondern vielmehr als seine jeweiligen Entdecker." (ebd.: 48)

Für Kołakowski ist die Wahrheit ein Wert, der sich von der wirksamen Anwendbarkeit unterscheidet, Teil des Mythos, der die bedingten Erfahrungsrealitäten auf eine unbedingte Welt bezieht. Sie wird zum Teil der Mythologie der Vernunft, die eine Diskontinuität zwischen der Vernunft und der biologischen Assimilation der Welt annimmt und es damit ablehnt, die Vernunft als Organ des Körpers anzuerkennen. Betrachtet man jedoch das Gehirn als Teil des biologischen Körpers und die menschliche Vernunft als Teil des Gehirnverhaltens, kann die Wahrheit nicht als Qualität des Wissens, die sich von der technologischen Anwendbarkeit unterscheidet, begriffen werden. Der Mythos der Vernunft ist aber weder als wahr noch als falsch zu bezeichnen, da die entsprechenden Kriterien erst im Hinblick auf den Mythos der Vernunft zu gewinnen sind.

"Der Mythos der Vernunft wird eben nicht aufhören, Mythos zu sein, nur in illusorischer Verblendung wird er einen Teil des Wissens verkehrt werden können. Die Rechtmässigkeit der Beweismittel kann nicht früher bewiesen werden, als man die Vernunft annimmt. Der Glaube an die Vernunft kann keine Gründe besitzen, die durch die blosse Anwendung der Vernunft entdeckt werden. Der Glaube an die Vernunft ist eine mythische Option, geht somit über die Befugnisse der Vernunft hinaus. Sie ist nötig, damit das Menschsein sich als Gegenwärtigkeit der Vernunft in der unvernünftigen Welt konstituieren kann. Sie ist nötig für die Selbstkonstituierung des Menschseins, für das radikale Selbstverständnis des Menschen, etwas anderes zu sein als ein Plasma mit differenzierter Sensibilität. Der Mythos der Vernunft soll der verzweifelten Einwilligung des Menschen in seine eigene Zufälligkeit entgegenwirken." (ebd.: 58f.)

Der Mythos der Vernunft enthebt den Menschen der Fragen nach der eigenen Zufälligkeit und nach den letzten Dingen, so dass er sich mit dem Vollzug des Lebens zufriedengeben kann, ohne über seine Unmittelbarkeit hinauszugehen.

"Wenn die Frage nach der Zufälligkeit des Menschseins jedoch als klaffende Lücke im Denken des Menschen über sich selbst auftaucht, so ist die Antwort, die uns diese Zufälligkeit anzunehmen zwingt, verzweifelt. Die, die sich mit der Zufälligkeit des Menschseins abfinden und behaupten, dass eine solche Einwilligung nicht verzweifelt sei, sagen die Unwahrheit. Der Mythos der Vernunft reinigt von Verzweiflung, ist ein Argument gegen die Zufälligkeit, kann jedoch selber kein Rechtsgrund sein. Er hat jedoch das Recht auf seiner Seite, das sich aus der gleichen Arbitrarität beider Optionen herleitet: der Option für oder gegen den Mythos." (ebd. 59)

Die Hinwendung zum Mythos kann nicht Ausdruck des Wissens sein, sondern muss als Akt totalen und zuversichtlichen Akzeptierens ohne weitere Rechtfertigung betrachtet werden. Wenn diese Akzeptation sich auf eine andere Person richtet, bezieht sie diese in die mythische Realität mit ein. Die menschliche Kultur bedarf aber der Solidarität in ihren Werten, die sich nicht aus den vormenschlichen Bedingungen des Menschen, aus sein Körperlichkeit und aus seinem Platz auf dem Stammbaum der belebten Natur ableiten lässt.

"Die Kenntnis der vorkulturellen Genesis der Kultur kann nicht ausreichen für unsere Teilnahme an der Kulturgemeinschaft; diese Gemeinschaft fordert, dass man sie auf unbedingte Werte als den Ort der Konfrontation verweise, und sie bleibt nur unter dieser Bedingung erhalten. Das Menschsein als Gemeinschaft ist intentional an die transzendenten Bedingungen der Erfahrung gebunden." (ebd.: 76)

Das gilt auch für das Menschsein als Person. Wenn die menschliche Persönlichkeit als ein reiner Bestandteil der Gattung, sozusagen als Schachtel zur Aufbewahrung ihres Keimplasmas, betrachtet wird, kann der autotelische Sinn der menschlichen Person, wie er etwa in Kants Imperativ zum Ausdruck kommt, nur als eine Laune der zufälligen Kultur gelten.

"Wenn die Persönlichkeit kein Absolutum ist, das heisst Freiheit, erfährt ihr Anspruch auf autotelischen Wert dadurch nicht eine Beschränkung, sondern annulliert sich restlos.

   Ich wiederhole, das sind Motive, keine Gründe. Der Mythos besitzt keine Gründe, er bedarf ihrer nicht, doch nicht deshalb, weil er keine besitzen könnte; im Gegenteil: er kann keine besitzen, weil er keiner Gründe bedarf. Unsere Hinwendung zum Mythos ist nämlich keine Suche nach Informationen, sondern eine Selbstplatzierung in Bezug auf den Bereich, den wir erfahren als die (nicht logische, sondern existenzielle) Bedingung unseres Haftens an der Welt und an der menschlichen Gemeinschaft als an einem Feld, in dem die Werte wachsen und verblühen." (ebd.)

Dem religiösen oder philosophischen Mythos ist die Kraft eigen, die Gleichgültigkeit der Welt aufzuheben – im Gegensatz zu allen Massnahmen, die nicht über die empirischen Qualitäten der Welt hinausgelangen, etwa dem Versuch der technologischen Bändigung der Dingwelt, der sexuellem Bemächtigung anderer Menschen oder der Leidenschaften nach Besitz oder Macht.

"In der Tat, die Erfahrung der Gleichgültigkeit stellt uns vor die Alternative: entweder es gelingt uns, die Fremdheit der Dinge durch ihre mythische Organisation zu überwinden, oder wir werden diese Erfahrung vor uns verheimlichen in einem komplizierten System von Einrichtungen, die das Leben in der Faktizität des Alltäglichen zerreiben." (ebd.: 104)

Die Flucht vor dem Mythos kann nach Kołakowski gelingen in Form von Mythen, in denen jede Erfahrung relativiert wird, was bewirkt, dass das empirische Sein eigenes Gewicht verliert und als sekundäre Realität in Erscheinung zu treten beginnt; der Einzelne wird in seiner Existenz zum Vermittler einer Chiffre, die von einer nicht-empirischen, mythischen und unbedingten Welt ausgeht.

"Es scheint trotz allem so, dass der Mythos tatsächlich das Gefühl der Zähmung des Seins schaffen könnte. Wie bereits gesagt, gibt es zwei extreme Erfahrungen, zwischen denen unser Wissen von der Gleichgültigkeit der Welt gespannt ist: die Vorwegnahme des eigenen Todes, in der das Phänomen der Gleichgültigkeit der Welt seinen Charakter offenbart, und die Erfahrung des erotischen Kontaktes, im dem der am weitesten getriebene Versuch der Kommunikation mit dem anderen uns die unüberwindlichen Barrieren vor Augen führt, innerhalb deren wir das Phänomen der Gleichgültigkeit ertragen müssen. Der Mythos muss über diese beiden Erfahrungen Rechenschaft ablegen, den Tod und die Liebe, wenn er die Funktion erfüllen will, von der die Rede war; er muss die Frage beantworten: Weshalb werde ich in der Todesvorwegnahme mit dem Phänomen der Gleichgültigkeit als mit einer universalen Eigenschaft der Welt konfrontiert? Weshalb kann ich in der erotischen Begegnung nicht die Grenze überschreiten, die mich vor der vollkommenen Vereinigung trennt?" (ebd.: 105, meine Hervorh.)

Wesentlich erscheint Kolakowski nicht, die mythenbildende Energie zu unterdrücken, sondern die Mystifikationen zu vermeiden, die dadurch zustande kommen, dass wir dem Ergebnis dieser Arbeit die Würde einer rationalen Erklärung der Erfahrungswelt zugestehen.

"Wir haben keine Gründe, uns von der historischen oder kosmischen Eschatologie täuschen zu lassen, die uns Erfüllung der Geschichte, die irreversible Versöhnung aller in der Kultur aktiven Energien verspricht (...) Für den Teilhaber am Mythos können die Wandlungen der menschlichen Welt selbstverständlich als Wachstum und Riefen der Gottheit im Körper des Kosmos oder als sukzessive Annäherung des empirischen Seins des Menschen an einen Ort verstanden werden, an dem dieses Sein mit der Berufung des Menschseins zusammenfällt. Doch die Kulturphilosophie, die die Zusammenstösse zwischen der mythischen Sehnsucht mit den Zwängen des empirischen, biologischen Dauerns verfolgt, muss diese Hoffnungen mit Skepsis betrachten; sie wird die Punkte der chronischen Anstrengungen festhalten und eher die Situation aufdecken, in der die Zerbrechlichkeit unserer Existenz selbst dem mythischen Bewusstsein als Zeichen des Niedergangs und auf der anderen Seite die mythologische Überwindung jener Zerbrechlichkeit dem Blick des rational und technologisch orientierten Bewusstseins als Krankheit der Kultur erscheinen." (ebd.: 166)

Eine gewisse Entspannung zwischen der mythologischen und der rationalen Erklärung in unserer Kultur erscheint Kolakowski zwar vorstellbar, doch als "Sammelbecken von Werten", die in ihr aktiv sind, eignen sie sich nicht zur Synthese, auch wenn wir gezwungen sind, uns in beiden zu bewegen und damit praktisch zwei Herren zu dienen.

"Keine rationale Argumentation vermag zwingende Gründe anzuführen, die uns die eine oder die andere Ordnung eindeutig als einen Schatten bezeichnen heissen, der die andere, 'wahre' Wirklichkeit verdecke; keine erlaubt es zu entscheiden, welche dieser beiden Ordnungen, die mythische oder die phänomenale, die reale Welt bilde und welche hingegen eine Ausgeburt der Imagination sei; in welcher von beiden wir eher im Wachzustand leben und welche von beiden einen Teil unserer Traumwelt darstelle; welche das Gesicht und welche die Maske sei. Zwischen dem Gesichtspunkt, für den die Realitäten der Erfahrung das einzige 'harte' Sein bilden, während alles andere aus dem Dunst der Einbildungskraft entsteht, und jenem zweiten, für den die authentische Wirklichkeit im Gegenteil 'auf der anderen Seite' liegt und der die unbeständige Welt der Phänomene infolgedessen nur als das Glitzern einer irrelevanten 'Oberfläche' erscheinen kann, zwischen diesen beiden Gesichtspunkten lässt sich unmöglich entscheiden unter Berufung auf Gründe, die beiderseitig als rechtmässige gelten. Denn für den einen jeden der zerstrittenen Standpunkte setzt die Legitimität der vom Gegner angeführten Argumente Wertkriterien voraus, die in seinen, des Gegners, arbiträren Entscheidungen verwurzelt sind. (ebd.: 167f.)

Der Anhänger der mythischen Realitäten wird den gegen den Mythos gerichteten Argumenten keine grosse Bedeutung zumessen, da die Legalität der Beweise auf dem ausschliesslichen Vertrauen auf Werte beruht, die im praktischen, empirischen Bereich anwendbar sind. Und umgekehrt wird der Gegner des mythologischen Weltbildes mit gleichem Recht aufzeigen können, dass dem Gültigkeitsanspruch des Mythos das Einverständnis mit den mythischen Überzeugungen vorangehen muss.

"Die Aussichtslosigkeit dieses Zusammenstosses wäre im Übrigen nicht so lästig, wenn beide Gesichtspunkte, die zu keiner Synthese fähig sind, nicht dennoch in jedem von uns gegenwärtig wären, wenngleich nicht mit derselben Vehemenz. Sie müssen demnach miteinander koexistieren, wenngleich sie gerade dazu unfähig sein.

   (...) die Kultur lebt stets aus dem Wunsch nach endgültiger Synthese ihrer zerstrittenen Bestandteile und aus der organischen Unfähigkeit, sich diese Synthese zu sichern. Der Vollzug der Synthese wäre ebenso der Tod der Kultur wie der Verzicht auf den Willen zur Synthese. Die Ungewissheit über die Absichten und die Zerbrechlichkeit der Errungenschaften erweisen sich als Bedingungen für das schöpferische Fortbestehen der Kultur. Das Schicksal der Kultur erscheint als Epos, das dank seiner Labilität grossartig ist." (ebd.: 168f.)

 


d) Kritik aus der Basis von Künzlis Postulat der Rationalität eines demokratischen Sozialismus

Dass Fromm den Gedanken eines "humanistischen Sozialismus" auf der Basis eines mythologischen Weltbildes aufbaut, bedeutet nicht, dass die Rationalität einer solchen politischen Ordnung grundsätzlich zu bestreiten wäre. Ihre Begründung muss aber anderswo gesucht werden, nicht als die Erfüllung einer mystifizierenden, im Menschen angelegten Tendenz, wie sie dem Denken von Hegel, Marx und Fromm zugrunde liegt. Eine durch biblische Mythen inspirierte Heilsgeschichte – verstanden als dialektische Entwicklung von geschichtlichen Phasen, die sich in Richtung auf eine Zukunftsordnung hin entwickeln – ist, wie Künzli an einer Stelle sagt, zwar "genuin hegelianisch-marxistisch", aber "nicht in einem weiteren Sinne sozialistisch" (1975: 17).

"Der 'zeitlose' Gedanke des Sozialismus transzendiert solche geschichtlich bedingten Theorien, Geschichtsphilosophien und Denkmethoden. Er geht aus von einem letztlich nicht mehr hinterfragbaren, von den einen biblisch, von anderen naturrechtlich, noch anderen humanistisch oder gar ontologisch legitimierten – Bild des Menschen. Es ist der Gedanke, dass es mit der Würde, der Mündigkeit, der Authentizität und Identität, der Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht' des Menschen als Person unvereinbar ist, in sozioökonomisch bedingter Abhängigkeit zu leben, seine Arbeitskraft und damit sich selbst als Ware verkaufen zu müssen und keine Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die selbst erzeugten Produkte zu besitzen. Es ist der Gedanke, dass die sozioökonomisch bedingte Abhängigkeit durch Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln beseitigt und dass durch eine Vergesellschaftung dieser Produktionsmittel ein privilegien-, unterdrückungs-, abhängigkeits- und ausbeutungsfreier Zustand optimaler gesellschaftlicher Chancengleichheit und Gerechtigkeit sowie individueller wie gesellschaftlicher Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Freiheit erreicht werden soll. (ebd.: 4)

Die Form dieser Vergesellschaftung muss nach Künzli den jeweiligen ökonomischen, wissenschaftlich-technischen, politischen und sozialen Bedingungen angepasst werden. Wer sich nur an Marx' Vorstellung eines Wegs zum Sozialismus oder am sowjetischen Modell orientiere, drohe einem ungeschichtlichen Denken anheimzufallen.

Wenn Sozialismus verstanden werden soll als "Demokratisierung der Demokratie", über den heute stark ausgehöhlten formal-politischen Bereich hinaus, so kann dies nur in dialektischem Vollzug der "Aufhebung" der bürgerlichen Gesellschaftsordnung geschehen, als evolutionärer Prozess, der zur Partizipation aller Bürger in allen wesentlichen Gesellschaftsbereichen führt. "Aufhebung" aber ist zu verstehen im dreifachen Wortsinn als Bewahrung, Überwindung und Auflösung eines von den historischen Verhältnissen überschrittenen Zustandes. Hingegen ist die apokalyptische und eschatologische Vorstellung einer sozialistischen Revolution "als der vom Menschenwillen vorzeitig erzwungene Jüngste Tag, der die sündhafte Vorgeschichte der Menschheit abschliesst und die eigentliche Geschichte als Reich der Freiheit eröffnet" (ebd.: 52) abzulehnen.

"Wenn es deshalb überhaupt eine Alternative gibt, die den Weg zu radikalen emanzipatorischen Strukturveränderungen öffnen könnte, dann wohl nur in Form einer in den gesellschaft1ichen Basiseinheiten geduldig erarbeiteten und erkämpften Partizipation, die das politische Parteienspiel unterwandert." (ebd.).

Als Mittel und Medium einer sozialen Revolution müssen in erster Linie soziale und nicht partei- oder staatspolitische Ziele gelten. So ist der Weg zur Partizipation als "langer Marsch durch den sozialen Alltag" zu verstehen.

"Wenn die Geschichte darauf angelegt ist, die wahre, vernünftige, richtige, gute Gesellschaft hervorzubringen, dann ist jenes Tun sittlich, das dazu beiträgt, diesen innerweltlich-eschatologischen Prozess zu fördern, dann verwandelt Ethik sich in Politik." (ebd.: 126)

Soll der Begriff "Sozialismus" heute überhaupt noch etwas aussagen, dann geht es darum, die Aufhebung der in den westlichen Staaten primär am Arbeitsplatz erfolgenden Entmündigung, Entfremdung und Ausbeutung des Menschen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem kennzeichnen, zu postulieren und voranzutreiben.

"Wie kann man allen Ernstes behaupten, dass unsere Gesellschaften keine Klassengesellschaften mehr seien, wenn nach wie vor ein Teil dieser Gesellschaft die Produktionsmittel besitzt und exklusive über sie verfügt, während der andere Teil davon ausgeschlossen bleibt?" (1979: 279)

Auch wenn wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen zu begrüssen seien, so habe es die Frage des Sozialismus nicht in erster Linie mit materiellem Wohlergehen zu tun, das ja auch unter diktatorischen Bedingungen denkbar sei, –

(...) sondern mit der Aufhebung der gesellschaftlich bedingten Entfremdungen und letztlich mit der Freiheit, der Brüderlichkeit, der Würde und der Mündigkeit des Menschen (...) – alles Postulate, die in einem strukturell antifreiheitlichen kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht zu verwirklichen sind und deren Verwirklichung auf staatlich-politischem Gebiet in grösserem oder geringerem Umfang rein formal bleiben muss, solange am Arbeitsplatz und im Alltag überhaupt eine institutionalisierte Fremdbestimmung weiterherrscht." (ebd.: 280)

Die Chancen für die Realisierung eines so verstandenen Sozialismus in den modernen westlichen Industriegesellschaften in absehbarer Zeit erscheinen zwar gering, vor allem weil trotz allgemeiner "Staatsverdrossenheit" und Kritik am Bestehenden in der breiten Bevölkerung kein Bewusstsein von der Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Kapitalismus vorhanden sei und nirgendwo (Italien "eventuell ausgenommen") eine breite Volksströmung oder gar Volksmehrheit bestehe, die Vorstellungen von einer sozioökonomischen Alternative besitze.

"Sozialismus und Privateigentum an den Produktionsmitteln sind unvereinbar, denn Letzteres konstituiert Entfremdung, Abhängigkeit, Unmündigkeit, Unfreiheit." (ebd.: 286)

Der Gedanke eines demokratischen Sozialismus sei vorerst mit einer negativen Anthropologie zu verknüpfen im Sinne des Postulates, dass jede anthropologische Aussage (die eigene mitinbegriffen) unter Ideologieverdacht zu stellen sei. Prinzip aller Demokratie und allen Sozialismus müsse die Beseitigung der durch tradierte oder usurpierte Macht bedingten Entfremdung sein mit den Mitteln der ungehinderten Partizipation, Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und Selbstregierung des Volkes. Denn der gemeinsame Grundwert und die gemeinsame Zielvorstellung von Demokratie und Sozialismus sei die Mündigkeit des Volkes und damit auch jedes einzelnen Menschen im Sinne einer durch die Emanzipation von Fremdbestimmung ermöglichten und gesellschaftlich orientierten Selbstverwaltung.

"Die in den bürgerlich-demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften noch bestehende strukturelle Gewalt kann, wenn überhaupt, unter den gegebenen Umständen nur durch eine geduldige punktuelle Arbeit an den Strukturen abgebaut werden. Voraussetzung dazu ist, einer breiteren Gesellschaftsschicht den Gewaltcharakter dieser Strukturen durch eine an Vernunft und emanzipatorische Werte appellierende Aufklärungsarbeit einsichtig zu machen. Ein Fortschritt in Richtung auf einen als Demokratisierung der Demokratie verstandenen Sozialismus ist in unseren bürgerlich-demokratischen Gesellschaften nur so weit möglich, als in breiten Gesellschaftsschichten ein entsprechendes Bewusstsein entwickelt ist." (ebd.: 37)

Sozialismus dürfe nicht mehr als ein im Geschichtsprozess früher oder später erreichbarer "Heilszustand" verstanden werden, sondern sei als Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses anzustreben –

" (...) dieser Gedanke hat in den letzten Jahren in Europa Fortschritte gemacht und da und dort zu ersten konkreten Ergebnissen geführt. Man mag diese als bescheiden bezeichnen – eine realistische Einschätzung der Situation im Spätkapitalismus, die sich ihr Urteil nicht von pseudoeschatologischen Hoffnungen trüben lässt, kann nur zu der Erkenntnis führen, dass mehr bisher kaum zu erreichen war, aber auch, dass mehr nur auf diesem Wage zu erreichen sein wird." (ebd.: 43f.)  

Hinter dem überholten "klassischen" Gegensatz von Evolution und Revolution sieht Künzli jenen von Liberalismus und Marxismus. der heute durch die Idee der Partizipation aufgehoben wird, indem der Liberalismus von seiner kapitalistischen und der Marxismus von seiner deterministischen und etatistischen Hypothek befreit werden muss. Unter "Partizipation" versteht er jedoch nicht einen "Dritten Weg", sondern die Transzendierung von traditionellem Liberalismus und Marxismus

(...) im Sinne einer Aufhebung, in der sich ein postkapitalistischer Liberalismus, eine postbourgeoise Demokratie und ein postmarxistischer Sozialismus treffen können." (ebd.: 70)

Da die nüchterne Einschätzung unserer heutigen Industriegesellschaft in "Ost" und "West" eine gegenläufige Bewegung anzeige, die durch eine zunehmende Entmündigung des Einzelnen gekennzeichnet sei und da uns allen die total verwaltete Gesellschaft unter kapitalistischem oder "sozialistischem" Etikett drohe, könne der Glaube an eine "notwendige" Entwicklung hin zum Sozialismus höchstens von einer Notwendigkeit des Glaubens überzeugen.

"Wir haben heute, wenn nicht alles trügt, lediglich die Wahl, die Entwicklung zur verwalteten Gesellschaft resigniert hinzunehmen oder unser Denken und Tun – selbst quia absurdum est (weil es absurd ist) – am Grundwert der Menschenwürde und der Mündigkeit zu orientieren. Wer darin eine Aufgabe sieht, die über Selbsterhaltung und Genuss hinaus seinem Leben einen Sinn zu geben vermag, dem bietet sich der revolutionäre Gedanke einer evolutionär zu verwirklichenden Partizipation als die unserer Situation am ehesten entsprechende Möglichkeit an, als gesellschaftlicher Mensch sinnvoll zu leben und zu schaffen." (ebd.: 71)

Dem stimme ich voll und ganz zu. Erich Fromms Grundwerten ist damit nicht widersprochen, wohl aber ihren anthropologischen Begründungen, die – wie ich in meiner Arbeit gezeigt habe – an einer im Wesentlichen Hegel verpflichteten, geschichtsmetaphysischen Struktur ausgerichtet ist. Oder, um nochmals Agnes Heller zu zitieren:

"Wir können zwar in Abrede stellen, dass der Mensch von Natur aus gut ist, wir können es bezweifeln, dass seine Moralität naturgegeben ist, und auch, dass die Biophilie mit der Menschheit zusammen entsteht. Aber eines können wir nicht bezweifeln: dass der 'biophile', das heisst der jeder Art von Destruktivität ledige und von den moralischen Impulsen 'auf natürliche Weise' geleitete Mensch uns eine regulativ-praktische Idee aufgibt. Wir können es nicht bestreiten, dass es unsere Pflicht ist, uns sowohl in unserer persönlichen Lebensführunq als auch in unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen von dieser Ides leiten zu lassen. Und es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, dass Fromms Theorie im Zeichen dieser Pflicht zustande kam.

   (...) Im Einklang mit dem grossen Königsberger kann Fromm von sich selbst sagen: 'Man tut am besten, anzunehmen, dass die Natur im Menschen nach demselben Ziel hinwirkt, wohin die Moralität treibt, besser als wenn man, um Menschen, die mit Macht bekleidet sind, zu schmeicheln, die Menschheit verleumdet.' Kann es überhaupt eine höhere Wahrheit geben als diese?" (1978: 212f.)

Kehren wir zu unserer ursprünglichen Frage zurück: Gelingt es Fromm – vor dem Hintergrund der Marxschen Kritik an den Grundlagen der Ethik und ihrer Relativierung durch die Erkenntnis der Interdependenz von Individuum und Gesellschaft in ihren historisch-dialektischen Bezügen – einen gleichzeitig Überhistorischen und doch innerweltlichen Standort ausfindig zu machen, von dem aus eine Sozialkritik begründet werden kann, die der Vergänglichkeit des Menschen gerecht wird, sich vor Ideologieverdacht Freiheit und den "Sprung" in die Metaphysik verweigert?

Meine Antwort ist: nein. Was Fromm – im Gegensatz zu Albert Camus, dessen Denken meine Arbeit besonders verpflichtet ist – anbietet, ist eine an verschiedenen Mythen (dem Goldenen Zeitalter, der Messianischen Zeit und anderem) orientierte, mit eschatologischen Elementen durchsetzte Weltanschauung, welche die historisch-gesellschaftlich begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des Menschen weit übersteigt und am Konflikt zwischen allzu weitgespannter Hoffnung und diese negierender Realität zu zerbrechen droht.

Doch trotz aller Einwände spricht mir die folgende Sentenz aus dem Herzen:

"Es ist das Unfertige an Fromm, das uns nicht mit ihm fertig werden lässt. Er regt zu ungewöhnlichen, ja unerhörten Denkexperimenten an. Er hat keinen Respekt vor den Endgültigkeiten, vor Dogmen und Fixierungen. Er durchstösst die Vorwände von Argumentationsgewohnheiten und legt die eigentlichen Motive hinter ihnen bloss." (Schultz: 9/1976)