Vorwort

Auch wer sich in mehrjähriger Arbeit intensiv mit dem Werk und mit der Person von Erich Fromm befasst, kann die Vielschichtigkeit seines Denkens nicht in der gewünschten letzten Gründlichkeit ausloten. Ein achtzigjähriges Leben im Dienste der Wissenschaft vom Menschen fordert von seinen Rezipienten eine breite Einarbeitung in Themen aus der Soziologie, Philosophie, Biologie, Psychologie und Psychoanalyse, Ethnologie und Anthropologie, Theologie und Vergleichenden Religionswissenschaft, Ur- und Zeitgeschichte, Politologie, Kunstgeschichte und Literatur, um nur die hauptsächlichsten Disziplinen zu nennen. [2] Dies hat Fromm von den Vertretern einzelner Fachrichtungen nicht selten Kritik und den Vorwurf des Eindringens in fremde Fachbereiche, wenn nicht gar jenen der Inkompetenz, eingetragen. [3]

In einer Zeit, die wissenschaftsgeschichtlich nach wie vor durch Arbeitsteilung und Spezialistentum geprägt ist (das Sein drückt dem Bewusstsein seinen Stempel auf), da Querverbindungen zwischen den Disziplinen nicht gesucht oder wahrgenommen werden und geschichtliche oder gesellschaftliche Reflexion wohl eher die Ausnahme als die Regel darstellt, wirkt Erich Fromms monumentales Unterfangen, eine interdisziplinäre Wissenschaft vom Menschen und eine humanistische Forschung zu begründen, auf mich sehr anziehend. [4]

Zweifellos ist aus geistesgeschichtlicher Perspektive in Erich Fromms Denken ein starker eklektischer Zug aufweisbar. [5] Es wäre aber höchst irrig, seinem Werk deshalb besondere Originalität abzusprechen. Das Zusammendenken der Aussagen von Persönlichkeiten aus allen Geschichtsepochen geschieht bei Fromm aus einer ganz bestimmten Sicht heraus, die ich in meiner Arbeit anhand des Entfremdungskonzepts in seiner geschichtlichen Dimension aufzeigen will.

Das Verschmelzen von Denken, Handeln und Fühlen in der Person von Erich Fromm verlangt Respekt ab, gewiss auch von jenen, die – wie ich selbst – nicht all seinen Prämissen zustimmen. [6]

In den rund 5000 Buchseiten, die Erich Fromms Gesamtwerk darstellen, ist das Ergebnis eines halben Jahrhunderts engagiertester Denk-, Schreib- und Lehrtätigkeit zu sehen. [7] Darin enthüllt sich nicht ein Vielschreiber, der seine Ideen zu Markte trägt [8], sondern ein ebenso geduldiger wie beharrlicher Mahner in der Tradition der altbiblischen Propheten [9], der nicht müde wird, einer der Raserei ungebremsten Wachstums verfallenen und in der Ausbeutung von Mensch und Natur versierten Gesellschaft in West und Ost ebenso kompromisslos wie ungebeten einen Spiegel vorzuhalten, dessen Bild ihr keineswegs schmeichelt. [10]

 

Zur Quellenlage

Erich Fromms hundert grössere und kleinere Arbeiten liegen seit 1980/81 in der von Rainer Funk hervorragend edierten und durch einen detaillierten Registerband aufgeschlüsselten Gesamtausgabe der Deutschen Verlagsanstalt vor. Diese Edition ist umso verdienstvoller, wenn man bedenkt, dass Fromm seine Schriften von 1936 an in englischer Sprache bei einer ganzen Anzahl amerikanischer Verlage publizierte. Die ins Deutsche zurückübersetzten Werke wurden von Erich Fromm in seinen allerletzten Lebensjahren im Tessin durchgesehen und beglaubigt, was den wissenschaftlich Arbeitenden in eine komfortable Situation versetzt, erspart es ihm doch ein zeit- und geldverschlingendes Recherchieren in den Archiven und Bibliotheken zweier Kontinente.

Neben der Gesamtausgabe zog ich für meine Untersuchung Erich Fromms Dissertation mit dem Titel Das jüdische Gesetz aus dem Jahre 1922 bei. Als weitere Originalquellen dienten einige Interviews aus Presse und Rundfunk. Die meisten dieser Materialien fand ich im Tübinger Erich-Fromm-Archiv vor, ebenso den Grossteil der benötigten Sekundärliteratur.

 

Zum methodischen Vorgehen

Eine streng fachphilosophische Annäherung an Erich Fromm widerspricht dem Charakter seines Denkens von Grund auf. Denn Fromm stand der Philosophie als abstrakter Einzelwissenschaft skeptisch gegenüber, ja er sah in ihr wie auch in anderen Disziplinen akademischer Betätigung den Ausdruck menschlicher Entfremdung; die philosophische Abstraktion macht sich in seiner Sicht des Vergehens der prinzipiellen Trennung von Subjekt und Objekt schuldig, der intellektuellen Funktionen von jenen des Fühlens und Handelns in sozialer Eingebundenheit. [11]

Für das Verständnis von Erich Fromms Leben und Werk erweist es sich als als unabdingbar, den Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen miteinzubeziehen. Die Trennung von Mensch und Werk ist nicht statthaft – weder auf Fromm persönlich bezogen noch im Hinblick auf Fromms Einschätzung anderer Personen. Auf mein spezielles Thema bezogen schöpfe ich daraus die Anregung, mich für Fromms persönliche Erfahrungen des Fremdseins, Sich-Fremd-Fühlens, Verlusts oder Gewinns von Heimat und Eigentlichkeit besonders zu interessieren. Deshalb gebe ich im Anhang eine relativ ausführliche biografische Skizze von Erich Fromms Vita. Der Einfluss seiner Lebensumstände auf sein Werk ist unübersehbar und tiefgreifend. [12]

Fromms Begrifflichkeit entzieht sich oftmals einer strengen Definition, sprengt manchmal die Grenzen des Diskursiven und greift aus ins Assoziative. Das habe ich keineswegs einfach als Mangel empfunden: Der Gewinn scheint mir dabei eine umso grössere Lebendigkeit der Sprache zu sein, die sich ihrer Verbundenheit mit der jüdischen Tradition mündlicher Überlieferung völlig bewusst ist." [13]

Dies gilt nun in ganz besonderem Masse für das Thema der Entfremdung. Von einem Frommschen Entfremdungsbegriff zu sprechen, wäre verfehlt. Vielmehr handelt es sich um einen Gedanken, ein Konzept und gar um ein Syndrom der Entfremdung. Dessen zentraler Stellenwert in Fromms Werken ist seit Mitte der 1950er-Jahre unübersehbar. In meiner Untersuchung geht es mir darum, aus der Kenntnis des Frommschen Gesamtwerkes heraus den ganzen "Entfremdungskomplex" in seiner geschichtsphilosophischen Dimension auszuleuchten und zu interpretieren. Dabei lege ich grosses Gewicht auf die Darstellung der wichtigsten Stationen des Entfremdungsbegriffes in der Philosophiegeschichte, der ich mich im ersten Kapitel meiner Arbeit zuwende.

Die Auseinandersetzung Fromms mit der "Entfremdung" beginnt überraschend spät, nämlich erst 1941 ansatzweise im Werk Die Furcht vor der Freiheit und dann ausführlich 1955 in Wege aus einer kranken Gesellschaft, in vertiefter Form nochmals 1961 in Das Menschenbild bei Marx, zu einer Zeit also, da Fromm bereits Dutzende von Büchern und Artikeln verfasst hat. Schon dieser Umstand muss den Verdacht wecken, dass sich in Fromms Weltbild neue starke Einflüsse Geltung verschaffen, die weit über seine Freud-Marx-Rezeption hinausgehen und seinem Denken eine neue Wendung geben. Gedanken zur Entfremdung finden sich dann in sämtlichen Arbeiten Fromms nach 1955. Ihre Aufarbeitung kann dazu beitragen, in mosaikartiger Form ein umfassendes Bild seiner Vorstellung von Entfremdung zu entwerfen. Erst in ihrer Verbindung mit Fromms Geschichtsbild ist dann allerdings der volle Sinn dessen auszuschöpfen, was "Entfremdung" letztendlich bei Fromm bedeutet.

Diesen beiden Themenkreisen widme ich mich in den Kapiteln ll und III. Nach einer kurzen Darstellung der bisherigen Ergebnisse (IV) gehe ich in Kapitel V auf die wichtigsten Diskussionsbeiträge zum Thema Geschichte und Entfremdung in der Sekundärliteratur ein. Ihnen folgt eine etwas allgemeiner gehaltene persönliche Kritik an Fromm (Vl). Den Abschluss meiner Arbeit bildet eine Zusammenfassung (VII).

 

Zur Problemstellung

Eine eigentliche Geschichtsphilosophie in abschliessender Form ist bei Fromm nicht vorfindbar. Aus zahlreichen einzelnen Passagen lässt sich aber die Grundstruktur seines geschichtlichen Denkens aufzeigen; deren volle Bedeutung wird von den Verfassern der bisher erschienenen Sekundärliteratur aber meist verkannt. Die überaus zahlreichen Stellen, an denen Fromm in mehr oder weniger differenzierter Weise von "Entfremdung" in positiver oder negativer Valenz spricht, lassen sich nur entschlüsseln, wenn man sie in ihrem geschichtsphilosophischen Zusammenhang betrachtet. Fromm erhebt den Anspruch, durch seine Auffassung von der menschlichen "Natur", die aufs engste verknüpft ist mit seiner Bedürfnislehre, eine Ethik der Biophilie begründen zu können, die für die Menschen jeder Epoche und jeder Region des Erdkreises verbindlich ist und der empirischen Überprüfung am Kriterium des subjektiven Wohlbefindens und der objektiven Vernunft standhält, eine Ethik, die alle Begrenzungen durch Nationen, Rassen, Klassen, Wirtschaftsformen und Kulturen transzendiert und als Normprinzip für eine entfremdungsfreie Zukunftsgesellschaft fruchtbar gemacht werden kann.

Von diesem Anspruch leitet sich die erkenntnisleitende Frage meiner Untersuchung ab: Gelingt es Fromm – vor dem Hintergrund der Marxschen Kritik an den Grundlagen der Ethik und ihrer Relativierung durch die Erkenntnis der Interdependenz von Individuum und Gesellschaft in ihren historisch-dialektischen Bezügen – einen gleichzeitig überhistorischen und doch innerweltlichen Standort ausfindig zu machen, von dem aus eine Sozialethik begründet werden kann, die der Vergänglichkeit des Menschen gerecht wird, sich von Ideologieverdacht freihält und den "Sprung" in die Metaphysik verweigert?

Konkreter gefragt: Verwirklicht Fromms Vorstellung eines der Biophilie verpflichteten Humanistischen Sozialismus das Postulat einer den Menschen in den Mittelpunkt stellenden, emanzipativen und solidarischen Lebens- und Gesellschaftsordnung der Zukunft, in der Entfremdung in allen ihren historischen Formen überwunden ist?