Einleitung

Am Ende seines 1930 veröffentlichten Werks Das Unbehagen in der Kultur fragt Sigmund Freud seine Leserschaft:

"Wenn die Kulturentwicklung so weitgehende Ähnlichkeit mit der des Einzelnen hat und mit denselben Mitteln arbeitet, soll man nicht zur Diagnose berechtigt sein, dass manche Kulturen oder Kulturepochen – möglicherweise die ganze Menschheit – unter dem Einfluss der Kulturstrebungen 'neurotisch' geworden sind?" (1982: 269).

Und er fährt fort:

"Ich konnte nicht sagen, dass ein solcher Versuch zur Übertragung der Psychoanalyse auf die Kulturentwicklung unsinnig oder zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre. Aber man müsste sehr vorsichtig sein, nicht vergessen, dass es sich doch nur um Analogien handelt und dass es nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Begriffen gefährlich ist, sie aus der Sphäre zu reissen, in der sie entstanden sind. (...) Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwarten, dass jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaft unternehmen würde." (ebd.).

Freud sieht als besondere Schwierigkeiten für die Diagnose von Gemeinschaftsneurosen, dass einerseits der Gegensatz einer als "normal" anzunehmenden Umgebung fehle, so dass dieser Kontrast aus einem anderen Bereich herbeigezogen werden müsste, und dass es anderseits einer Autorität ermangelte, die der "Masse" eine entsprechende Therapie auferlegen und diese durchsetzen könnte.

Seine Prognose jedoch bewahrheitete sich in kürzester Zeit: Erich Fromm widmete sich der geradezu herkulischen Aufgabe, eine gründliche Revision der Psychoanalyse nach gesellschaftskritischen Aspekten vorzunehmen, um sie zu einer soziologisch erweiterten Psychologie auszubauen, zu einer längst überfälligen "Kulturpathologie der Menschheit", die Kriterien für eine "gesunde Gesellschaft" liefern sollte. [14]

Fromm legte die Grundlagen für seine Theorie einer analytischen Sozialpsychologie, die mit dem Anspruch auftritt, Freuds Psychoanalyse und Marx' historischen Materialismus in konstruktiver Synthese zusammengeführt zu haben, gegen Ende der Weimarer Republik, in der Zeit der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung und in den Jahren bis zum Ausbruch des durch diese entfachten Zweiten Weltkrieges, von dem Freud nur noch das erste Aufflammen sah, bevor er für immer die Augen schloss. [15]

Wenn es zutrifft, dass – wie Platon sagt [16] – Philosophieren Sterbenlernen heisst, so hat sich die Aufgabe der Philosophierenden spätestens mit den atomaren Massakern an der japanischen Zivilbevölkerung in den ersten Augusttagen 1945 ganz beträchtlich ausgeweitet und in makabrer Weise aktualisiert. Zu bedenken ist seit diesen grauenhaften Bombardements nicht mehr "nur" das Sterben des Einzelnen, sondern – sozusagen in Ereignisunion – noch viel drängender die jederzeit gegebene Möglichkeit des Endes für die Gattung Mensch. Der Homo sapiens muss sich künftig bewähren an seiner euphemistischen Selbstdefinition.

Seit die beiden Supermächte und eine Reihe weiterer Staaten sich atomar bis an die Zähne bewaffnet haben, findet sich die gesamte Zivilbevölkerung der Erde als Geisel in der Hand ihres potenziellen militärischen Gegners wieder. Daran ändern auch die im bisherigen Massstab getroffenen Abrüstungsvereinbarungen nichts. Wir Menschen, bisher ganz offensichtlich nicht fähig, uns zur Schicksalsgemeinschaft im Sinne unserer konstruktiven Möglichkeiten und tätiger Solidarität zu entfalten, sind es nun ungewollt im Bereich unseres destruktiven Potenzials geworden.

Hoffnung zu verbreiten in einer Situation, die der Mehrheit der Menschen nur den täglichen Kampf um das Lebensnotwendigste bietet, in der sich Armut, Hunger, militärische Krisen, Analphabetismus, medizinische Unterversorgung, Überbevölkerung und Verschuldung in den "Entwicklungsländern" innerhalb einer von den reichen Nationen diktierten Weltwirtschaftsordnung verschärfen, wo sich bei einer beachtlichen Zahl von Menschen Endzeitstimmung breitmacht, während andere den privilegierten Weg des hemmungslosen Konsums und des Amüsements weitergehen – hier Hoffnung zu verbreiten, erfordert einen starken Glauben an die positiven Kräfte des Menschen. Denn vorderhand gibt es kaum Anzeichen für eine Entwicklung, die von den Abgründen globaler Katastrophen entscheidend wegführte. Das verkennt Fromm keinesfalls, ganz im Gegenteil. [17]

Das Unbehagen einer Grosszahl von Philosophen, Gesellschafts- und Naturwissenschaftlern über die Lage der Menschheit, des "Raumschiffs Erde", ist gross. Nicht das Paradies auf Erden scheint am Ende der menschlichen Bemühungen zu stehen, wie man doch so lange und oft unkritisch gedacht hat, sondern – mindestens als Denkmöglichkeit – die Feuerhölle des atomaren Holocaust, die nukleare Eiswüste oder doch "zumindest" der ökologische Bankrott mit unabsehbaren Folgen für alles Lebendige.

An diese Erkenntnis anknüpfend, schreibt der Zukunftsforscher Robert Jungk in seinem Aufsatz "Ausblick auf die Zukunft":

"Nie zuvor hat die Menschheit sich so intensiv mit der Zukunft beschäftigt wie jetzt, da sie von einer Stunde zur anderen durch Menschenhand verloren gehen könnte. Vor allen früheren Generationen schien die Zeit sich endlos zu erstrecken. Sie gehörte so selbstverständlich zur Schöpfung wie die Luft, das Wasser, die Pflanzen, die Tiere. Nun, im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen, wird sie als endlich erkannt.

Nicht mehr nur um ihre eigene Existenz haben sich die Lebenden zu sorgen. Sie müssen annehmen, dass mit ihnen auch alle Künftigen ihrer Art bedroht sind. Von heute auf morgen kann die Geschichte der Erdbewohner aufhören. Für immer. Für alle Ewigkeit." (1985: 1064)

In ähnlicher Weise räsonniert auch der Schriftsteller Arthur Koestler:

"Wenn die Leute über die letzten Wasserstoffbombentests lesen, so sehen sie gleichzeitig viel schärfer, als sie es sich eingestehen, auçh die Möglichkeit, dass sich die menschliche Zivilisation vielleicht ihrem Ende nähern könnte. Und parallel damit mag ein dunkler, undeutlicher Verdacht gehen, dass der Grund tiefer liegt als im Kommunismus und Faschismus, dass er vielleicht in der Natur des Homo sapiens selbst liegt; mit andern Worten: dass die menschliche Rasse eine biologische Missgeburt sein konnte, die wie die Riesenreptile aus früherer Zeit dem Untergang geweiht ist." (1932: 101f.)

Der LSD-Entdecker und Chemiker Albert Hofmann sieht die Menschheit ebenfalls völlig "Jenseits von Eden":

"Nach der Vertreibung aus der Geborgenheit des Paradiesgartens in Ungeschütztheit und Selbstverantwortung wurde dem mit erweitertem Erkenntnisvermögen ausgestatteten Menschen die Verfügungsgewalt über die Erde und all ihre Schätze verliehen. 'Machet euch die Erde untertan.' Aber anstatt seine neue Geborgenheit in einem irdischen Paradiesgarten zu finden, hat der Mensch, den göttlichen Auftrag falsch verstehend, unter Missbrauch der neu erlangten geistigen Fähigkeiten, die Erde verwüstet und ist daran, sie völlig unbewohnbar zu machen." (1986: 68f.)

Der Politwissenschaftler Arnold Künzli hat sich ebenfalls längst von einem ungebrochenen Glauben an ein "Reich der Freiheit", wie es von Marx in einer künftigen kommunistischen Gesellschaftsordnung postuliert wird, distanziert.

"Die Menschheit ist sich nun der Freiheit bewusst geworden, sich, wenn sie will, selbst zu vernichten. Das ist etwas völlig Neues. Dieses kollektive Freiheits- und Autonomiebewusstsein gab es vor der Atombombe noch nicht. Dass es erst relativ wenigen denkenden Menschen zum wirklichen Bewusstsein geworden ist, spielt dabei keine Rolle. Vor allem für einen Marxisten ist das aber ein Ereignis von so unerhörter Bedeutung, dass es die Grundfesten seines Glaubens erschüttern muss. Die Atombombe zwingt ihn, sich einer Freiheit der Geschichte gegenüber bewusst zu werden, die für ihn bisher schlechthin nicht existierte. Sein Glaube an die Geschichte und ihre vorbestimmte Entwicklung war ja nichts anderes als ein säkularisierter Gottesglaube. Aber dieser säkularisierte Gott ist nun tot. Denn ist das noch ein Gott, dem ich mit einer von Menschen hergestellten Waffe den Garaus machen kann? Kann es neben einer absoluten Waffe auf Erden noch etwas Absolutes geben?" (1963: 115)

Diesem Gott der absoluten Zerstörung scheint nun Ulrich Horstmann mit seinem apologetischen Grundriss zu einer Philosophie der biologischen Apokalypse zu huldigen in seinem überaus nekrophilen Buch "Das Untier", das in der Aufforderung endet:

"Vermonden wir unseren stoffwechselsiechen Planeten! Denn nicht bevor sich die Sichel des Trabanten hienieden in tausend Kraterseen spiegelt. Nicht bevor Vorbild und Nachbild, Mond und Welt, ununterscheidbar geworden sind und Quarzkristalle über dem Abgrund einander zublinzeln im Sternenlicht, nicht bevor die letzte Oase verödet, der letzte Seufzer verklungen, der letzte Keim verdorrt ist, wird wieder Eden sein auf Erden." (1985: 113f.)

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind die mannigfachen Bedrohungen der Menschheit nur noch um den Preis des eigenen Überlebens und jenes der Nachkommen zu verdrängen – Gefahren, die Fromm mahnend ins Bewusstsein gehoben hat.

Kann man dennoch die Idee des verlorenen Paradieses wiederbeleben und gar an der Vision vom messianischen Zeitalter festhalten? Ist es vertretbar, bei gleichzeitiger Verneinung eines persönlichen Gottes – was ja jeden göttlichen Gnaden- und Rettungsakt prinzipiell ausschliesst – weiterhin auf das Gute im Menschen zu vertrauen?

Erich Fromm macht sich keine Illusionen über den desolaten Zustand unseres Planeten. Aber er hält an der "rationalen" Hoffnung fest, dass wir die in uns schlummernden Fähigkeiten zu "Liebe", "Vernunft" und "Solidarität" doch noch verwirklichen können, auch in einer Zeit, da in unserer Zivilisation Katastrophenmeldungen jeder Art Kennzeichen der Alltäglichkeit sind und von profitorientierten Medienkonzernen in umsatzsteigernder Aufmachung einem künstlich erzeugten und aufrechterhaltenen Sensationsbedürfnis zugeführt werden.

Über das "Krankenbett" einer von Mangel einerseits und von Überfluss anderseits heimgesuchten Menschheit gebeugt, stellt Fromm mutig die Diagnose: völlige Entfremdung in den unterschiedlichsten Formen. Und er ist auch um die entsprechende Therapie nicht verlegen: radikale Rückkehr zu den produktiven Möglichkeiten des Menschen. Wiederherstellung der verlorenen Harmonie zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Mensch und Mitmensch; Aufbau einer auf den Menschen ausgerichteten sozialistisch-humanistischen Gesellschaftsordnung, die den "wahren Bedürfnissen" des Menschen entspricht und Überwindung der privat- und der staatskapitalistischen Gesellschaftsstrukturen, wie sie von den beiden Grossmächten repräsentiert werden – auf dass wir Eden doch noch erleben!

"Sein" oder "Haben" – das sind die Embleme von Erich Fromms Weltdeutung. Wie einen besonders reichhaltigen, zusammengefalteten Fächer will ich Fromms Gesamtwerk nun in seinen vielen Verfältelungen ausbreiten und auf seine geschichtsphilosophische Textur hin genauer unter die Lupe nehmen, ausgehend von einem vertieften philosophiegeschichtlichen Verständnis des überaus schillernden Begriffs der "Entfremdung".