Biografie Erich Fromm

Kindheit und Jugend [194]

 

Am 23. März 1900 wird Erich Pinchas Fromm als erstes und einziges Kind seiner jüdischen Eltern in der alten Handelsmetropole Frankfurt am Main geboren. Deren jüdische Gemeinde macht damals rund acht Prozent der Gesamtbevölkerung aus und stellt "neben einer Mehrheit kleinerer Gewerbetreibender zahlreiche Bankiers, Ärzte, Juristen und Akademiker der verschiedensten Fachrichtungen" (Knapp, 1982: 12).

 

Beide Elternteile stehen in einer langen Ahnenreihe von bedeutenden Rabbinern und Talmudforschern. So ist Erich Fromms Grossvater auf Vaterseite der bekannte Rabbiner Seligmann Fromm, in der Familie seines Sohne Naphtali (Erich Fromms Vater, das neunte von zehn Kindern) in Ungnade gefallen, weil er 1852 in den Dienst des Prinzen von Homburg getreten ist und dort bis 1875 als Landgräflicher Rabbiner eine materiell gesicherte Existenz geführt hat, bevor er Hausrabbiner des Barons Willi Carl von Rothschild in Frankfurt geworden ist.

 

Naphtali Fromms beruflicher Bereich ist der Obstweinhandel. Während sein vor- und sein nachgeborener Bruder eine akademische Ausbildung erhalten und dann als Rechtsanwalt beziehungsweise Arzt wirken, lebt Naphtali ganz in der geliebten orthodox-jüdischen Welt. Am liebsten wäre er in die Fussstapfen von Vater und Grossvater getreten und Rabbiner geworden. Umso mehr engagiert er sich in der jüdischen Gemeinde, wo er sich bei der Bewahrung der überlieferten Tradition Verdienste erwirbt.

 

Ein erstes starkes Moment persönlichen Fremdseins ist so angelegt an der Bruchstelle von altertümlicher Welt des rabbinischen Judentums, das für Erich Fromm die ganze Jugendzeit hindurch wegweisend ist, und der neuzeitlichen Welt des Handels und der Geschäftswelt, aus deren Einkünften sich die Familie tatsächlich ernährt. [195]

 

Erich Fromms Lebensweg wird entscheidend beeinflusst durch die Erfahrung einer "vermeintlich heilen, prämerkantilen Welt und der modernen Waren- und Erwerbsgesellschaft, die der Heranwachsende im Elternhaus erfährt". (Knapp, 1982: 14) [196]

 

Seine Mutter, Rosa Fromm (eine geborene Krause), stammt aus Posen (dem heutigen polnischen Poznań). Dort hat sie am 16. Juni 1899 Naphtali Fromm geheiratet. Ihr Vater ist Zigarrenfabrikant, während sich dessen Bruder, Ludwig Krause (Erich Fromms Grossonkel also), als einer der bedeutendsten Talmudforscher seiner Zeit auszeichnet. Die Beziehung der Eltern ist wenig harmonisch und von negativen Gefühlen begleitet. Auch der junge Erich hat ein stark ambivalentes Verhältnis zu seinen Eltern. [197]

 

Erich Fromm erhält den ersten Talmudunterricht von Dr. Jacob Horovitz (1873 bis 1939), dann regelmässig von seinem über 70-jährigen Grossonkel Ludwig Krause. Er träumt davon, in die Heimatstadt seiner Mutter zu gehen, um Talmudist zu werden, gibt die Idee aber wieder auf, offenbar um seinen Eltern nicht eine so grosse örtliche Trennung zuzumuten. [198] Von den Schriften im Alten Testament faszinieren ihn vor allem die Propheten Jesaja, Amos und Hosea, da sie einen universalen Frieden verheissen. Besonderes Interesse findet er auch an den Geschichten vom Ungehorsam Adams und Evas, von Abrahams Fürsprache für die Einwohner von Sodom und Gomorrha sowie vom Schicksal des Jona in Ninive. [199]

 

Tiefe emotionale Jugenderlebnisse prägen seinen weiteren Lebensweg, so der Selbstmord einer attraktiven jungen Malerin, Freundin der Familie, die ihrem über alles geliebten Vater in den Tod gefolgt ist und in ihrem Testament den Wunsch geäussert hat, mit diesem zusammen begraben zu werden. Die Fragen, die sich dem aufgewühlten etwa dreizehnjährigen Erich nach dieser Familientragödie stellen, sind auch ein Grund für seine spätere Hinwendung zur Psychoanalyse. Zudem bildet das Erlebnis eine emotionale Grundlage für die Jahrzehnte später formulierte Unterscheidung zwischen Biophilie und Nekrophilie. [200]

 

Noch erschütterter ist Fromm zwei Jahre später über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der begleitet ist vom Zusammenbruch der zweiten Internationale und von einer verhängsnisvollen allgemeinen Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung. Seine Glaube an die Propheten des Alten Testamentes und ihre messianischen Visionen von einem harmonischen Zusammenleben der Völker gerät ins Wanken und führt zu einer starken Skepsis gegenüber selbstherrlichen nationalen Siegesprophezeiungen und generell gegenüber allen offiziellen Doktrinen.


 

Ausbildung und Heirat

 

Nach der Grundschule besucht Erich Fromm dasGymnasium der Frankfurter Wöhlerschule und legt in der Osterzeit 1918 die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab.

 

Durch seinen dritten Talmudlehrer, Dr. Nehemia Anton Nobel (1871 bis 1921), der in besonderem Masse dem vom Erich bewunderten prophetischen Geist nachlebt, kommt er in näheren Kontakt mit Ernst Simon, Franz Rosenzweig, Leo Löwenthal, Martin Buber und Siegfried Kracauer. Nobel erschliesst Fromm wohl auch den tieferen Zugang zur Philosophie Hermann Cohens und zum díchterischen Werk Goethes; ausserdem vermittelt er ihm profunde Kenntnisse der jüdischen Mystik.

 

Fromm lässt sich eine Zeitlang auch von Nobels Zionismus beeinflussen und wird – im völligen Gegensatz zu Cohens Ideen – "eifriges Mitglied eines zionistischen Jugendverbandes" (Funk, 1983: 33), wendet sich aber bald wieder von diesem ab. [201] Der Tod Nehemias Nobels im Jahre 1922 ist für Fromm ein schwerer Verlust.

 

Inzwischen hat er in Heidelberg mit "Rabbi Rabinkow". Dr. Salman Baruch Rabinkow (1882 bis um 1934) einen weiteren Lehrer gefunden. [202]Mehrere Jahre lang nimmt er bei diesem Unterricht in der Auslegung des Talmuds; dabei lernt er auch die Lehren von Moses Maimonides und dessen negative Attributenlehre sowie den jüdischen Chassidismus kennen, bedeutende Elemente seines späteren Denkens.

 

Rabinkow ist Fromms letzter Talmud-Lehrer. Er trägt sicher dazu bei, dass Fromm sich wenig später vom orthodoxen Judentum ganz löst und fortan zu einem "nicht-theistischen Humanismus" bekennt. [203]

 

Vorerst belegt er zwei Semester an der Frankfurter Universität und widmet sich den Rechtswissenschaften, um dann nach Heidelberg überzuwechseln, wo er Soziologie, Philosophie und Psychologie bei Alfred Weber, Karl Jaspers und Heinrich Rickert studiert. In den Semesterferien setzt sich Erich Fromm mit Engagement für die jüdische Gemeinde Frankfurts ein. [204]

 

1922 promoviert er mit einer Arbeit über die soziopsychologische Struktur von drei jüdischen Diasporagemeinden (den Karaim, den Chassidim und den Reformjuden): "Das jüdische Gesetz – Ein Beitrag zur Soziologie des Diasporajudentums" (bei Alfred Weber, dessen Vokabular sich Fromm in dieser Periode weitgehend aneignet).

 

Nach einer aufgelösten Verlobung mit Golde Ginsburg (einer Königsberger Jüdin, die 1923 seinen Freund Leo Löwenthal heiratet) lernt Erich Fromm 1924 die um zehn Jahre ältere Frieda Reichmann kennen; sie führt in Heidelberg von 1924 bis 1933 eine Art psychoanalytisches Sanatorium für jüdische Patienten. Erich Fromm muss sich ebenso wie seine Freunde einer Analyse unterziehen.

 

Um das Jahr 1926 beginnt sich Fromm auch stark für den Buddhismus zu interessieren. Die dabei entdeckte "Wertung der Religion, seine Kritik an jedem Verweis auf irrationale Offenbarung und Autorität und seine Vorliebe für die Verbindung von Vernunfterkenntnis und Mystik haben hier eine wesentliche Prägung erhalten". (Funk. 1978: 19)

 

Am 16. Juni 1926 (und damit am 27. Hochzeitstag von Fromms Eltern) heiraten Erich Fromm und Frieda Reichmann. Fromm setzt die mittlerweile abgebrochene Therapie bei Wilhelm Wittenberg in München und bei Karl Landauer in Frankfurt fort. Die Fromms leben aber nur gut vier Jahre zusammen, um dann wieder eigene Wege gehen. Geschieden wird die Ehe allerdings erst um 1940 in den USA. Ihre Freundschaft bleibt zeitlebens bestehen.

 

Unter dem Einfluss der psychoanalytischen Lehren entfernen sie sich zunehmend vom orthodoxen Judentum und seinen Ritualen, bis sie schliesslich die damit verbundene religiöse Praxis aufgeben.

 

Zur Vervollständigung seiner Ausbildung reist Erich Fromm nach Berlin, wo er sich am Psychoanalytischen Institut – das Ende der zwanziger Jahre zu einem bedeutenden Begegnungsort für Analytiker und Analysanden wird und gar die Bedeutung Wiens zu überflügeln beginnt – von 1926 bis 1932 in Theorie und Praxis unterweisen lässt und eine eigene Praxis eröffnet. Zu seinen akademischen Lehrern gehören Karl Abraham, Franz Alexander, Sándor Radó, Theodor Reik und Hanns Sachs, alles strikte Anhänger der Freudschen Orthodoxie.

 

In Berlin lernt Fromm auch Wilhelm Reich und Karen Horney kennen. Unter dem Einfluss Horneys, mit welcher Fromm sich sehr eng befreundet, setzt er sich auch zunehmend kritisch mit Freuds Libidotheorie auseinander; das belastet wiederum seine Verbindung mit Reich.

 

In diese Zeit fällt auch der Beginn von Fromms Marx-Rezeption. Dabei übt der Gesellschaftskritiker Siegfried Bernfeld, der wie Reich die Freudsche Psrchoanalyse mit dem Dialektischen Materialismus Marxscher Provenienz zu verbinden sucht, bedeutenden Eínfluss auf ihn aus.

 

Neben einer marxistisch orientierten Sozialpsychologie interessiert sich Fromm besonders stark für den Bereich der Religionssoziologie. Seine glänzenden Aufsätze zu diesem Thema wecken das Interesse des Horkheimer Kreises, der später als "Frankfurter Schule" bekannten Gruppe von Forschern am 1924 von Hermann Weil begründeten und von Carl Grünbers geführten Institut für Sozialforschung; dieses wird seit 1929 von Max Horkheimer äusserst kompetent geleitet.


 

Verbindung zum Frankfurter lnstitut für Sozialforschung


Die zentrale Bedeutung von Erich Fromm für das Frankfurter Institut für Sozialforschung und für das wissenschaftliche Denken von Horkheimer wird auch heute noch weitgehend verkannt. Bei den Mitgliedern der später "Frankfurter Schule" genannten Wissenschaftlergruppe [205] handelt es sich um Forscher, die alle ursprünglich aus jüdischen Familien stammen und mit privaten Geldmitteln und interdisziplinären Forschungsmethoden gesellschaftskritische Forschungen betreiben. Um eine "Schule" im ideologischen oder institutionellen Sinn geht es also nicht.

 

Erich Fromm wird von Leo Löwenthal, mit dem er seit 1928 befreundet ist, als einer von drei Psychoanalytikern in den Institutskreis eingeführt. Dort setzt er sich 1928 stark für die Gründung eines psychoanalytischen Instituts in Frankfurt ein. Zur Realisierung dieses Vorhabens kommt es dank der Unterstützung von Max Horkheimer, der bei Landauer eigene psychoanalytische Erfahrungen gesammelt hat. [206]

 

Von Winterhalbjahr 1930/31 an zählt Erich Fromm zu den Lehrkräften des Instituts. Allmählich nimmt er einen Platz in der Kerngruppe des "Instituts" ein. Bereits bei der Eröffnung des Psychoanalytischen Instituts am 16. Februar 1929 spricht Fromm zum Thema "Psychoanalyse und Soziologie" und stellt sein Konzept einer antimetaphysischen, historischen Anthropologie vor; dabei bezieht er sich auch auf den frühen Marx.

 

Bald schon beginnt Fromm, der 1930 Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Instituts für Sozialforschung mit Anstellung auf Lebenszeit geworden ist, mit einer grossangelegten Untersuchung zur Situation der deutschen Arbeiter und Angestellten. Damit soll das tatsächliche Befinden dieser sozialen Klassen erforscht werden. Die Untersuchung wird anhand eines 271 Positionen umfassenden Fragebogens vorgenommen, der vor allem unter den organisierten Arbeitern verteilt wird. Die Antworten sind dabei offen, die Fragen müssen mit eigenen Worten beantwortet werden. Mit psychoanalytischen und hermeneutischen Methoden, die Fromm ausgearbeitet hat, erfolgt dann die Auswertungsmethode dieses "interpretativen Fragebogens", entsprechend den Prinzipien der psychoanalytischen Lehre. Die Deutung der Antworten soll dann Rückschlüsse auf die seelische Struktur und damit die Zuordnung der Probanden zu bestimmten Charaktertypen ermöglichen.

 

Das Ergebnis ist niederschmetternd, wird aber durch die nachfolgenden Ereignisse bestätigt: die deutsche Arbeiterklasse ist in ihrer Mehrheit nicht in der Lage, den autoritären Entwicklungen echten Widerstand entgegenzusetzen. Die Erkenntnisse aus dem Projekt tragen aber dazu bei, dass sich die Mitglieder des Instituts illusionslos auf die Emigration vorzubereiten beginnen.

 

Erich Fromm wird unter den vier ständigen Mitarbeitern des Instituts für Psychoanalyse (neben Landauer, Meng, Fromm-Reichmann) rasch zur wichtigsten Figur; er schliesst sich auch als Einziger von diesem Personenkreis nach der Emigration in die USA dem Horkheimer-Institut wieder an.

 

1931 und im folgenden Jahr weilt Fromm längere Zeit in Davos, um eine Lungentuberkulose auszukurieren. Auch in dieser ausserordentlich kreativen Phase ist Fromm eng mit Horkheimer verbunden. [213]

 

Fromm schreibt eine Reihe von substanzíellen Beiträgen für den ersten Jahrgang der "Zeitschrift für Sozialpsychologie". Zwischen 1932 und 1938 verfasst er rund dreissig Rezensionen für die "Zeitschrift".

 

1933 beginnt die mehrphasige Flucht des Frankfurter Instituts in die Emigration. Bereits im Februar wird die Genfer Zweigstelle "Société Internationale de Recherches Sociales" zum Sitz der Verwaltung umfunktioniert. Die bedrohliche Nähe der deutschen Nationalsozialisten und der italienischen Faschisten sowie das unfreundliche Verhalten der Schweizer Behörden gegenüber Emigranten führen dazu, dass die Institutsleitung Hilfsangebote aus Paris und London bereitwillig annimmt, auch wenn damit vorderhand keine Aussichten auf den Ausbau zum Hauptsitz des Instituts verbunden sind. So wird in Paris eine Zweigstelle im Centre de Documentation an der Êcole Normale Supérieure eingerichtet. Auch der neue Verlag der Zeitschrift für Sozialforschunä richtet sich in der französischen Hauptstadt ein und wird zum Stützpunkt für international angelegte empirische Projekte und zum europäischen Vorposten des Instituts.

 

Die Flucht vor der nationalsozialistischen Herrschaft belebt das Trauma der Unsicherheit jüdischer Existenz bei den Mitgliedern des Horkheimer-Kreises erneut. Dank umsichtigem Verhalten ist es dem Leiter des Instituts immerhin gelungen, das Vermögen und die wissenschaftlichen Unterlagen rechtzeitig ins Ausland zu schaffen. Wissenschaftliche Kontakte zur Columbia University verhelfen schliesslich dank der Grosszügigkeit von Columbias eigenwilligem Präsidenten, Nicholas Murray Butler, zur Angliederung des Instituts an die New Yorker University of Columbia.

 

Fromm, der gerade zusammen mit Andries Sternheim zum Präsidenten der Genfer Internationalen Gesellschaft für Sozialforschung ernannt worden ist, kommt auf Einladung Franz Alexanders  vermittelt durch die bereits in die USA emigrierte Karen Horner  1934 nach Chicago. Er eröffnet in New York eine eigene psychoanalytische Praxis und schliesst sich dem Institut für Sozialforschung wieder an. Sein sozialpsychologischer Ansatz findet jedoch immer weniger Unterstützung. Die Kritik Fromms an der Freudschen Libidotheorie führt schliesslich zum offenen Konflikt, der lange Zeit nur verdeckt und schwelend ausgetragen werden ist.

 

Neben seiner Lehrtätigkeit – Fromm übernimmt eine Gastprofessur an der Columbia University  beteiligt er sich an grösseren Forschungsprojekten Horkheimers; so ist er wesentlich an der Ausarbeitung des umfassenden Sammelbandes Studien zur Autorität und Familie beteiligt, der 1936 veröffentlicht wird.

 

In den Jahren 1935 bis 1938 stehen vier Feldforschungsprojekte auf dem Programm des Instituts. Darunter ist eine Untersuchung über die Autoritätseinstellung von Probandinnen (anhand einer Gruppe von Studentinnen des New Yorker Sarah Lawrence College); sie wird im Spätherbst 1935 begonnen und von Fromm geleitet, gelangt jedoch nie über ihr schleppendes Anfangsstadium hinaus.

 

Daneben wird intensiv die Auswertung der Arbeiter- und Angestelltenerhebung vorangetrieben, in Zusammenarbeit mit Paul Lazarsfeld und dessen Forschungsstelle in Newark.

 

Neben den persönlichen Spannungen im Institut kommt es auch zu einer finanziellen und ideologischen Krise: diese bringt eine gewisse Orientierungslosigkeit mit sich. Dabei steht die patriarchalische Verfügungsgewalt Horkheimers im völligen Widerspruch zur Idee einer solidarischen Gruppe von Wissenschaftlern.

 

Als Adorno 1938 aus Europa kommend Vollmitglied des Instituts wird, kündigt Fromm seine Mitarbeit auf und lässt sich mit einem einmaligen Betrag für seinen lebenslangen Anstellungsvertrag entschädigen. Trotz jahrelanger Bemühungen Fromms und seiner Mitarbeitenden bleibt die Auswertung der Untersuchung über deutsche Arbeiter und Angestellte schliesslich unpubliziert. Das aus heutiger Sicht als eigentlicher Wissenschaftsskandal bezeichnet werden. [207]

 

Horkheimers mögliche Hoffnung, dass Fromm unter Verzicht auf weitere Anstellung dem Institut weiterhin verbunden bleiben würde, erfüllt sich nicht. Abgesehen von einem kurzen Briefgruss Horkheimers an Fromm ist die Trennung so vollständig wie nur denkbar. [208] Für Marcuse bewahrt sich Fromm aber – bei aller späteren Polemik – doch auch freundliche Gefühle. Den eígentlichen Abschluss des Frommschen Engagements bei Horkheimers Institut für Sozialforschung bildet die Veröffentlichung seines ersten grösseren Werkes Escape From Freedom (1941a). Das Buch wird in der "Zeitschrift" des Instituts von Fromms früherem Mitarbeiter und Freund Ernst Schachtel in lobenden Worten besprochen. [209]


 

Höhepunkt des öffentlichen Wirkens

 

In der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre verstärkt Erich Fromm seine Zusammenarbeit mit Karen Horney und Harry Stack Sullivan. Von aussen werden sie mit dem Etikett der "neoanalytischen Schule" oder der "Kulturalisten" versehen. Dagegen verwahrt sich sich Fromm imer wieder, da seiner Meinung nach die Differenzen zwischen ihren wissenschaftlichen Standpunkten beträchtlich und grundsätzlicher Natur sind. Ihre Gemeinsamkeit beruht immerhin auf dem Interesse an kulturellen und soziologischen Einflüssen auf den menschlichen Charakter.

 

Fromm kommt auch in näheren Kontakt zu Forschern, die nicht Mitglieder der New Yorker Psychoanalytic Society sind, etwa Margaret Mead, Ruth Benedict und John Dollard.

 

1941 gründet Fromm zusammen mit Karen Horney und anderen die American Association of Psychoanalysis. Doch zwei Jahre später zerbricht die Freundschaft mit Karen Horney aufgrund persönlicher Spannungen. Fromm gründet mit Harry Stack Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann, Clara Thompson sowie David und Janet Rioch den New Yorker Zweig der Washington School of Psychiatry, Psychoanalysis and Psychology – später William Alanson White Institute genannt. [210] Ziel der Neugründung ist die Ausbildung von Psychiatern und Psychologen in der Theorie und Praxis der revidierten Freudschen Psychoanalyse und die Vermittlung psychoanalytischer Erkenntnisse an Lehrer, Pfarrer, Sozialarbeiter, Ärzte und an das Krankenpflegepersonal. Von 1946 bis 1950 hat Erich Fromm hier die Leitung der Ausbildung und den Vorsitz des Lehrkörpers inne.

 

Daneben ist Fromm von 1942 bis 1953 Lehrer an der Bennington Faculty in Vermont (wo er sich auch gründlich mit der Ethik von Aristoteles und Spinoza auseinandersetzt).

 

Am 24. Juli 1944 heiratet Fromm, nunmehr seit vier Jahren US-amerikanischer Staatsbürger, die in Mannheim geborene und aufgewachsene Henny Gurland (geborene Schönstädt) – einzige Augenzeugin des tragischen Selbstmordes von Walter Benjamin an der französisch-spanischen Grenze.

 

Nach der Ankunft von Henny Gurland und deren Sohn Joseph in New York hat Fromm für das Studium und die Ausbildung von Joseph gesorgt. Er hat auch die Bürgschaft für zahlreiche jüdische Emigranten in den USA übernommen und so viele Menschen vor ihren mörderischen Verfolgern gerettet. Wegen einer Rückenmarksverletzung, die sich Henny Gurland auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zugezogen hat, ziehen die Fromme 1949 nach Mexiko, auf der Suche nach Linderung, welche die klimatischen Bedingungen und die radioaktiven Quellen des Landes versprechen. Als Henny 1952 an den Folgen ihres Leidens stirbt, ist Fromm überaus erschüttert.

 

Mit dem recht spontanen Umzug nach Mexiko-Stadt gibt Fromm seine Aktivitäten in den Vereinigten Staaten jedoch keineswegs einfach auf. Er verbringt jedes Jahr etwa vier Monate in den USA, wo er weiterhin am William Alanson White Institute und an verschiedenen amerikanischen Universitäten lehrt, So erhält er unter anderen Berufungen 1948 eine einjährige Gastprofessur an der Yale University. Feste Aufgaben hat er 1957 bis 1961 als Professor an der Michigan State University und von 1962 an als Adjunct Professor für Psychologie an der New York University.

 

1952 wird Erich Fromm ausserordentlicher Professor an der Medizinischen Fakultät der Nationaluniversität von Mexiko. In seiner dritten Heimat lebt er 25 Jahre. Hier bildet er die ganze erste Generation von Psychoanalytikern aus. [211] Zur Verstärkung des Lehrangebotes holt er immer wieder Spezialisten aus New York herbei, darunter Nathan Ackerman. Edward S. Tauber, Clara Thompson, Rose Spiegel und John Thompson. Zu Gastvorlesunsen kommen/vorübersehend auch Michael Balint, Gajo Petrović und Paul Tillich (ein alter Bekannter Fromme noch aus der gemeinsamen Frankfurter Zeit).

 

In den fünfziger und sechziger Jahren wirkt Fromm so in Mexiko vor allem als Psychoanalytiker und Sozialpsychologe, während er sich gleichzeitig in den USA einen Namen als Gesellschaftskritiker macht.

 

In der in Alabama geborenen Annis Freeman, die ihren Mann plötzlich verloren hat, lernt Erich Fromm seine dritte Frau kennen; mit ihr wird er bis an sein Lebensende zusammenbleiben. Sie heiraten am 18. Dezember 1953. Ende 1956 ziehen die Fromms in das von Annis entworfene Haus in Cuernavaca, etwas ausserhalb von Mexiko-Stadt. Hier unterhält Fromm wieder eine therapeutische Praxis und führt seine weltweite Korrespondenz weiter.

 

1956 gründet Fromm auch die Sociedad Mexicana de Psicoanálisis. Kultureller Höhepunkt des folgenden Jahres ist ein gemeinsames Seminar mit Daisetz T. Suzuki. Fromms Interesse für den Zen-Buddhismus intensiviert sich, und er arbeitet sich in die besondere Verwandtschaft von Psychoanalyse und Zen ein.

 

Zusammen mit Michael Maccoby beginnt Fromm 1957 eine grossangelegte, sich über Jahre erstreckende Feldstudie zum Charakter eines mexikanischen Dorfes mit verfeinerten empirischen und hermeneutischen Methoden, die auf dem in den dreissiger Jahren entwickelten Instrumentarium beruhen.

 

Die zweite Hälfte der fünfziger Jahre bringt ein verstärktes politisches Engagement in den USA mit sich. Bald nach dem Erscheinen von Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a), worin Fromm konkrete Vorschläge zur Neugestaltung der westlichen Industriegesellschaft macht, tritt er in die Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten (Socialist Party  Social Democratic Federation: SP-SDF) ein, für die er ein neues Parteiprogramm mitausarbeitet. Dieses wird vom zuständigen Parteiausschuss angenommen; als Fromm aber erkennt, dass die Parteibürokratie seine Vorschläge hintertreibt. zieht er sich enttäuscht wieder zurück. [212]

 

Zu seinen weiteren Tätigkeiten gehört die aktive Beteiligung an der amerikanischen Friedensbewegung. Schon 1957 macht er mit bei der Gründung des "National Comittee for a Sane Policy" (sinnigerweise kurz SANE genannt). Diese wendet sich gegen das atomare Wettrüsten und tritt später auch im Kampf gegen den Vietnamkrieg als wichtige politische Kraft wieder in Erscheinung.

 

Über Jahre hinweg lebt Fromm im Wesentlichen von seiner Vortrags- und Vorlesungstätigkeit sowie vom Erlös aus seinen zahlreichen Publikationen. Er verfasst Artikel und Bücher, um zur Belebung politischer Diskussionen beizutragen, und er greift wiederholt in aktuelle politische Debatten ein. Zudem appelliert er immer wieder in öffentlicher oder privater Form an Politiker und Staatsmänner und setzt sich mit Unterschriftenlisten. Petitionen. Resolutionen und als Aktivist bei politischen Organisationen und Basisbewegungen gegen die unterschiedlichsten Formen von Unterdrückung und für eine lebenswertere Zukunft ein (unter anderem kämpft er für die Freilassung des in der DDR inhaftierten Heinz Brandt).

 

1965 organisiert Fromm eine als "Symposium" bezeichnete Sammlung von Beiträgen unter dem Titel Socialist Humanism. Daran beteiligen sich humanistisch gesinnte Sozialisten aus zahlreichen Ländern, unter anderen Ernst Bloch. Bertrand Russel. Leopold Senghor, Herbert Marcuse, Iring Fetscher, Mihailo Marković, Gajo Petrović, Predrag Vranicki und Adam Schaff. Fromm pflegt besonders intensive Kontakte zu der jugoslawischen Intellektuellengruppe um die Zeitschrift "Praxis", auf deren Theoriediskussion eines "Jugoslawischen Modells" sein sozialpsychologischer Ansatz starken Einfluss hat.

 

Wenn Fromm von seinem Temperament her auch nicht für eine direkte politische Betätigung disponiert ist, so leistet er im Amerika des Kalten Krieges und des fanatisierten Antikommunismus bedeutende Aufklärungsarbeit und eröffnet mit der Absage an den westlichen Kapitalismus wie auch an den östlichen Staatskommunismus zumindest die Vorstellung eines dritten Weges; darin ist der Mensch das zentrale Element von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.


 

Alter und Tod

 

Fromms letztes grosses Engagement in den USA ist seine Unterstützung von Eugene McCarthy während dessen Kampagne für die Präsidentschaftsnominierung der Demokratischen Partei im Jahr 1958. Ein erster Herzinfarkt zwingt ihn zu langer Erholung, die er zum Teil im Tessin verlebt. Im Sommer 1974 fassen die Fromme den unvermittelten Entschluss, nicht mehr nach Mexiko zurückzukehren und ihren Lebensabend am Lago Maggiore zu verbringen, und richten sich sessahft ein. Am 18. März 1980 stirbt Erich Fromm, fünf Tage vor seinem 80. Geburtstag – Ehrenbürger von Muralto und Träger des Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund (1979) – ohne Anzeichen eines Todeskampfes – an einem dritten Herzinfarkt. Sein Leichnam wird in Bellinzona bei einer Abschiedsfeier in engstem Kreis kremiert, die Asche dem Wunsch des Verstorbenen entsprechend dem Wellenspiel des Langensees übergeben: Fromm lehnte in Einklang mit seinem ganzen Lebenswerk einen sichtbaren Ort der Totenverehrung ab.